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Nomadisieren nach Plan

Was die Geschichte der Fußballtaktik über Gesellschaftsordnungen verrät

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 8 Min.

Als das ungarische Herrenfußball-Nationalteam anno 1953 in Wembley auflief, um seinen Gegnern eine historische Niederlage - nämlich das erste verlorene Heimspiel einer englischen Auswahl überhaupt - beizubringen, begann der Triumph schon vor dem Anstoß. Die Ungarn hatten nämlich zu höchst exotischen Taktiken gegriffen: Die Außenverteidiger überquerten zuweilen die Mittellinie und die Außenstürmer tauschten sogar ein paar Mal die Positionen. Und nicht zuletzt trug ihr Mittelläufer die Nummer Drei statt, wie damals üblich, die Fünf, während die Fünf »im Mittelfeld auftauchte«, statt der Nummer entsprechend den Mittelläufer zu geben! Schon das, erinnerte sich später der legendäre Mittelstürmer Nandor Hidegkuti in einem Interview, stiftete bei den Engländern »maximale Verwirrung«.

Was heute absonderlich klingt, war damals atemberaubend. Die Ungarn kratzten an einer Spielidee, die sich über Jahrzehnte verfestigt hatte: Am Primat eines hochgradig arbeitsteiligen Positionsspiels, das das Spielfeld in drei mal drei Funktionszonen aufteilte - vorne, mittig und hinten in jeweils rechts, mittig und links - und jedem Spieler eine eng begrenzte »Heimat« zuwies, die mit einem hoch spezialisierten »Beruf« verbunden war: So bestand die Aufgabe eines Rechtsverteidigers darin, in einem Feld von etwa 25 auf 15 Metern meist linksfüßige Linksaußen am Flanken zu hindern und den Ball gegebenenfalls zu den Vorwärtskräften des eigenen Teams zu befördern.

Papierkich
  • Christoph Biermann/Ulrich Fuchs: Der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung ändern kann. Wie moderner Fußball funktioniert, Kiepenheuer & Witsch, 1999.
  • Jonathan Wilson: Revolutionen auf dem Rasen. Eine Geschichte der Fußballtaktik, Verlag Die Werkstatt, 2011.
  • Christoph Biermann: Matchplan. Die neue Fußball-Matrix, Kiepenheuer & Witsch, 2018.

Dass nun schon diese leichte Auflockerung, die die Ungarn in diesem System vornahmen, die Engländer dermaßen aus dem Konzept brachte, dass sie das »Match of the Century« mit einem satten 3:6 verloren, zeigt, wie weit eine statische Zuordnung von Körpern und Räumen den Fußballern dieser Zeit zur zweiten Natur geworden war.

Bis zur Ausbildung dieser zweiten Natur war es indes ein weiter Weg: Zunächst werden volksfestartige Vorformen des Spiels, bei denen ganze Siedlungen ohne exakt begrenztes Spielfeld und ohne konsequente Trennung von Spielenden und Publikum gegeneinander antreten, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen vier Eckfahnen verbannt. Dort raufen sich dann acht oder neun Angreifer um den Ball, die allesamt versuchen, das Runde per Dribbling ins Eckige zu expedieren - die Idee des Passspiels kommt erst um 1880 auf, zunächst in Schottland. Erst im frühen 20. Jahrhundert hat sich dann das Niveau der Ballbehandlung allgemein so weit angehoben, dass Spieler den Kopf hochnehmen und über ihre Spielbeträge nachdenken können - und erst diese Ankunft des Homo erectus auf dem Fußballplatz versetzt Trainer überhaupt in die Lage, sich so etwas wie Taktiken auszudenken.

Nicht die erste, aber die dann für lange Zeit grundlegende Ordnung war das »WM-System«, das sich zwischen 1920 und 1930 in England verbreitet. Sein Name spielt nicht etwa auf die Weltmeisterschaftsturniere an, von denen das erste 1930 stattfindet, sondern beschreibt eine Aufstellung, in der aus der Vogelperspektive und auf den allmählich aufkommenden Taktiktafeln der Trainer der offensive Mannschaftsteil ein »W« und der defensive ein »M« abbildet: Hier werden die Spieler erstmals konsequent auf dem ganzen Platz verteilt, bekommen jene »Heimaten« und »Berufe«, von denen schon die Rede war. Diese Aufstellung wird in der Folge vielfach offensiv oder defensiv modifiziert, ihre Grundidee aber bleibt bestimmend.

Was hat nun diese Ordnungsbildung auf dem Fußballplatz mit der gesellschaftlichen zu tun? Folgt man dem Soziologen Pierre Bourdieu, gibt es »im Raum des Sports Kräfte«, die sich »nicht nur auf ihn selbst applizieren«. Offensichtlich ist das neben dem Platz, in der während des 20. Jahrhunderts stets fortschreitenden Kommerzialisierung und Eventisierung von Sport und ganz besonders von Fußball. Auf einen zweiten Blick ergeben sich aber auch auf dem Platz, nämlich im konkreten räumlichen Verhalten, das die Spielenden verinnerlichen - also in der Spieltaktik - erstaunliche Parallelen.

Die Herausbildung der modernen Industriegesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Entwicklung ihres populärsten Sportspiels gehorchen ganz ähnlichen sozialräumlichen Prinzipien. Fortschreitende Arbeitsteilung, Systematisierung, Standardisierung, soziale und räumliche Entmischung durch Zuweisung von Positionen - all das kennzeichnet nicht nur den Fußball dieser Zeit, sondern auch denjenigen Typ von Gesellschaft, den etwa Eduard Bernstein »Organisierten Kapitalismus« taufte. In dem Disziplinierungsprozess, der diesen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzt, wird - wie Michel Foucault geschrieben hat -, der »Körper zu einem Element, das man platzieren, bewegen und an andere Elemente anschließen kann«, etwa an das Fließband. Er wird »auf seine Funktion reduziert«, zum »Element einer vielgliedrigen Maschine«: Die Ähnlichkeit dieses sozialen Vorgangs zu jenem synchronen fußballerischen, den die Sportjournalisten Christoph Biermann und Ulrich Fuchs die »Verwandlung des Haufens in eine Mannschaft« nennen, ist frappierend.

Ist also Sport - hier Fußball - auch im konkreten Vollzug eine Art Theateraufführung dessen, was ihn umgibt? Vor leichtfertigen Assoziationen muss man sich hüten, etwa davor, von Spielstilen auf vermeintliche Nationalcharaktere zu schließen. So spielte etwa die Elf des faschistischen Deutschland, wie Biermann und Fuchs schreiben, ganz im Gegensatz zu dessen Überlegen- und Besonderheitsideologie tatsächlich (mit mäßigem Erfolg) einen internationalen Stil. Wenn es aber um die langen Wellen von Vergesellschaftung geht, trägt die Analogie von Fußballtaktik und Sozialordnung ein gutes Stück durch das 20. Jahrhundert.

Schalten wir also zurück ins Stadion! Eingangs wurde von dort berichtet, womit der ungarische Fußball der 1950er für Furore sorgt: Er handhabt das starre Schema der Positionen flexibler als üblich. Dennoch besteht dasselbe zunächst weiter. Zur viel zitierten »Revolution auf dem Rasen« kommt es erst um 1970 im sogenannten Totalen Fußball niederländischer Herkunft. Bis dahin unbedeutend, schwingt sich mittels dieser Spielidee nicht nur das Nationalteam in Oranje, sondern auch Ajax Amsterdam im Vereinsfußball zu einer wahren Großmacht auf.

Im Grunde besteht der Totale Fußball - das Wort stammt, weswegen es hierzulande nicht so gebräuchlich ist, aus einem beißenden Satiregedicht über deutschen Fußball - in einer Aufhebung jener Heimaten und Berufe, die sich mit dem WM-System etabliert hatten. In Theorie wie Tendenz machen nun alle alles: Verteidiger greifen an, wenn sie eine Chance sehen, Angreifer bleiben dann zurück, alle spielen überall. Es geht nun nicht mehr um Positionen, sondern um Situationen. Statt die Körper an den Funktionslogiken zugewiesener Räume auszurichten, ist man im flexiblen, fließenden Totalfußball bemüht, »Räume zu schaffen«: Beispiele dafür sind Überzahlmomente im Angriff und in der Defensive die »Abseitsfalle«, die eine ganze Zone aus dem Spiel nimmt. Situationsbezogene Aufgaben ersetzen feste Berufe - und Heimaten lösen sich in ein Nomadisieren auf.

Schon die Gleichzeitigkeit von Totalfußball und »68« deutet auf eine Verwandtschaft hin. Und diese erschöpft sich nicht im Auftreten von Stars wie Johan Cruyff, die - Skandal! - ihre Leibchen nicht mehr ordnungsgemäß in die Hose stopfen. Eine Gleichsinnigkeit von »68« und Totalfußball bildet sich auch in jenem Übergang vom Positions- zum Situationsspiel ab: Nichts anderes als ein Überdruss an normierten Lebensläufen, an der sozialräumlichen Entmischung von Arbeits-, Privat- und Freizeitleben, an der entfremdeten Stilllegung des vermeintlich Authentischen, Spontanen und Kreativen zählt ja zu den Hauptmotiven jener Kulturrebellion: Der Situationismus des Totalfußballs trifft sich also mit Motiven einer Gesellschaftskritik nach Art der »Situationistischen Internationale«, die um 1968 an Einfluss gewinnt. Nicht nur auf dem Rasen werden starre räumliche Verteilungen mit aktivistischen Bestrebungen von Territorialisierung konfrontiert, sondern auch in den Unis und Stadtteilen - vom »Sit-in«, das aus einem Hörsaal statt eines Hierarchiebehälters temporär einen Raum von Selbstermächtigung macht, über neue Vereinigungen von »Arbeit und Leben« in Kommunen bis zu Hausbesetzungen.

Was aus all dem wurde, wird heuer viel diskutiert. Zentrale Elemente ließen sich offenbar überformen, geradezu zum neuen Prinzip erheben. So rekombinieren sich Haltungen von Individualität, Kreativität und Autoritätskritik, die 1968 als antisystemisch galten, zu neuen Arbeitsregimes der »flachen Hierarchie«, in denen die Verantwortung auf Mitarbeitende übergeht, die oft nicht einmal angestellt sind. Das Ende fester sozialräumlicher Fügung, von Berufen und Beheimatungen aller Art, mündet in ein neues Regiment flexibler Projekthaftigkeit, das die »Coworking Spaces« versinnbildlichen, jene tageweise mietbaren Arbeitsnomadenbüros der IT-Branche.

Auch diese Prozesse eines gleichzeitigen Abschleifens und Aufnehmens finden fußballerische Entsprechungen. Während das Spiel von Teams wie dem FC Barcelona (zumindest unter Pep Guardiola zu Beginn der 2010er Jahre) noch immer an Totalen Fußball erinnert, hat sich hinter den Kulissen Grundlegendes verschoben: Das im Gelingensfall impulsive, kreative und situationsintelligente Spiel basiert zunehmend auf Verwissenschaftlichung und Planung, auf Videostudium, auf gigantischen Datensammlungen über alle möglichen Details. Wie Unternehmen der »Kreativwirtschaft« der Kreativität keineswegs freien Lauf lassen, sondern diese effektivitätsorientiert optimieren, so wird auch der Fußball keineswegs dem »Genie« überantwortet, wie es noch zu Zeiten Cruyffs gewesen sein soll. Statt dessen »Instinktfußball« gibt es heute den »Matchplan«, den sein Erfinder, der deutsche Startrainer Thomas Tuchel, mit den Worten umschreibt, es gehe um die gezielte Herstellung eines »Rahmens« für das Ausleben von »Individualität« - also um das Züchten und planmäßige Einbimsen von situationsbezogener Kreativität, um ein Nomadisieren im Sinn des Totalen Fußballs, nun aber nach studierten Routinen.

Sehr deutlich beobachten ließ sich das Regime des Matchplans in der Hochphase des deutschen Fußballs zwischen dem Vorrundenaus von 2004 und dem von 2018. Das Land, in dem jene Revolution auf dem Rasen - wie ja auch andere - einst so schnell versandete, erwies sich als besonders meisterhaft darin, ein planmäßig durchorganisiertes Surrogat derselben herzustellen. Insofern hatte das klägliche Ausscheiden der deutschen Herrenmannschaft in Kasan auch etwas Tröstliches: Der Fußball lässt sich auch weiterhin nicht immer und umfassend planen.

Und vielleicht findet ja auch diese fußballerische Überraschung einmal eine soziale Entsprechung.

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