Goodbye, Alkohol
In den Redaktionen der alten und neuen Bundesrepublik fehlen drei Dinge, die für den Zeitungsbetrieb elementar sind: Niemand raucht mehr, niemand trinkt mehr und niemand ist gut angezogen. Wo soll das alles hinführen?
Vor meinem ersten Arbeitstag malte ich mir das Bild in den schönsten graublaudunstigen Farbtönen aus: Gerade am FMP1 angekommen, führt mich eine Sekretariatskraft in die Redaktionsräume, dort stehen die herrlichen Rauchschwaden mit dem Messer schneidbar im Raum. Angestrengt über die Tastaturen gebeugt und bahnbrechende Artikel tippend mit Zigarette im Mundwinkel die Redakteure, oder mit hochgekrempelten Ärmeln an einem Besprechungstisch stehend, ein Glas Whiskey in der Hand und den weltverändernden Leitartikel diskutierend. Dort bin ich Mensch, dort kann ich sein. Stattdessen begrüßte mich ein kleines, barfüßiges Männlein in Schlabberpulli, und dem Geruch aus seinem Mund zufolge hatte es seit mindestens 22 Jahren keinen Tropfen mehr getrunken.
Ich war erschrocken und entsetzt. Die Raucher konnte man an einer Hand abzählen, und sie waren durch ihre Unterzahl so schüchtern geworden, sie verließen das Gebäude und standen in einer kleinen Ecke im Hof, um sich beschämt einen Glimmstängel anzuzünden. Alkoholmissbrauch schien hier auch ein Fremdwort zu sein, an meinem ersten Tag wurde mir nicht mal ein Bier angeboten. Nach Redaktionsschluss versteckte ich mich, bis alle das Gebäude verlassen hatten. Jeden Schreibtisch habe ich aufgebrochen, bis hoch zur Chefredaktion - und nichts, nirgends, keine noch so kleine Flasche Alkohol war zu finden. Nicht einmal die Putzkräfte hatten ein Reinigungsmittel auf Ethanolbasis mit sich. Und ich habe mich informiert, das ist auch bei der »taz«, beim »Spiegel« oder bei Springer nicht anders!
Kein Wunder, dass die Tageszeitungen vor die Hunde gehen: Wie will man Artikel schreiben, die die Republik bewegen, wenn man nicht im Blut hat, was der Republik beim Aufstehen und beim Einschlafen hilft? Wie will man die Todessehnsucht und die Existenzkrisen der Massen in Worte fassen, wenn man sich selbst den Selbstmord auf Raten verwehrt?
Und wie will man ernst genommen werden, wenn man aussieht wie das Lumpenproletariat? Barfuß, Badelatschen, Birkenstock - Meine Damen und Herren, wir sind doch nicht am Strand oder in Großmutters Datscha, wo man sich diesen Fauxpas vielleicht erlauben kann! Die Zivilisation hat uns nicht Sneakers und feinste Seidenhemden geschenkt, damit wir uns mit den Gewändern der Barbarei bekleiden. Von den alten, weißen Männern mit Dreadlocks ganz zu schweigen.
Nach dem ersten Kaffee an diesem Montagmorgen ist meine schlechte Stimmung etwas verflogen, fröhlich biete ich den Kolleginnen und Kollegen blaue Gauloises und volle Gläser mit Lagavulin an, gebe Stylingtipps und empfehle Friseure. Manchmal muss man eben retten, was noch zu retten ist.
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