Abszesse am Po
»Die Klinik« auf Kabel 1 ist eine Doku-Reihe, die für einen Kommerzkanal verblüffend gut gelungen ist
Dabei zuzuschauen, wie Abszesse vom Po entfernt werden, ist in etwa das Gegenteil guter Unterhaltung - daran ändert sich wenig, wenn der Patient ein weinendes Baby ist. Trotzdem regt die Szene dazu an, sich auch den Rest eines Mehrteilers anzusehen, den man in dieser Form an diesem Ort zu dieser Zeit nicht erwarten würde. Er heißt ganz unprätentiös »Die Klinik« und entführt uns ab heute auf Kabel 1 vier Dienstage zur Primetime für je 90 Minuten in »eines der größten Krankenhäuser in der Mitte Deutschlands«.
100 Tage lang haben Bärbel Jacks und Florian Falkenstein 17 von 2000 Mitarbeitern des Klinikums Frankfurt-Höchst besucht, ein Krankenhaus mit 900 Betten für 140 000 Patienten pro Jahr. Und dass die ersten drei von sechs Stunden noch immer nicht auf Effekthascherei, Zickenkrieg, wenigstens ein paar Schmerzens-, Freuden- oder Trauertränen setzen, ist angesichts des Senders verblüffend. Die Altkleidersammlung der ProSiebenSat 1-Gruppe lagert ihr Sachangebot zwar seit Längerem im eigenen Dokukanal aus; aber was von »Achtung, Kontrolle!« bis »Abenteuer Leben« übrig bleibt, unterläuft regelmäßig selbst das niedrige Niveau kommerzieller Dokusoaps.
Umso erstaunlicher, dass »Die Klinik« nicht nur seriöses Factual Entertainment ist. Die Doku entfaltet auch eine Wahrhaftigkeit, die seltener wird im Mahlstrom medizinischer Unterhaltung. Erst unlängst war die ARD »Im Herzen der Megaklinik« Aachen zu Gast. Der RBB begab sich zuvor »Auf Leben und Tod« ins Unfallkrankenhaus Marzahn. Die benachbarte Charité ist öfter im Bild als alle Gesundheitsstaatsminister der Welt zusammen. Bei »24 Stunden« von Berlin über Bayern bis Jerusalem gab’s natürlich Notaufnahmesequenzen. Und vor zwei Jahren machte »Code Black« aus der gleichnamigen Dokumentation übers gigantische Angels Memorial in L. A. so gewissenhafte Fiktion, dass sie mit der Realität verschwamm.
Mit deren Dramatik kann »Die Klinik« kaum mithalten, will sie auch gar nicht. Es geht ihr spürbar darum, den Krankenhausalltag in seiner ganzen, oft undramatischen Komplexität zu zeigen. Mit Menschen wie Tino Bastiani. Der Anästhesist, dem das Baby vom Anfang die schmerzfreie OP zu verdanken hat, ist nicht nur wegen seines schiefen Lächelns von so vertrauenswürdiger Kompetenz, dass man ihm gerne durch die blutige Notaufnahme folgt. Gleiches gilt für den sehr hektischen, sehr hessischen Pflegeschüler, die sehr blonde, sehr fleißige Assistenzärztin oder ihren sehr versierten, sehr bescheidenen Stationsleiter.
Sie alle wurden zwar gecastet, stammen aber aus der Mitte des Krankenhausbetriebes, den die Reihe überdies bis ins hinterste Eck ausleuchtet. Neben Fachpersonal mit Fachgebieten wie »Spezielle Rhythmologie« dringt die Doku tief ins Untergeschoss des Gesundheitswesens vor. Zum Lageristen fern aller Heilungserfolge, zur OP-Putzfrau, zum Krankentransportleiter. Mit sinkendem Gehalt babbeln sie alle zunehmend Mundart, werden stets respektvoll dargestellt. In der routinierten Ereignislosigkeit des Organismus Klinik geht es ersichtlich ums Kollektiv. Was zählt, ist der Workflow, nicht die Blutfontäne.
Die üblichen Showeffekte gibt’s natürlich dazu. Der Off-Kommentar wähnt sich beim Kampf »um Leben oder Tod« gern am »Schicksalsort«. Die Hingabe aller Beteiligten wirkt oft der Kamera geschuldet. Und dass nicht jeder Ernstfall mit bedrohlichem Sound unterlegt werden muss, wird das Privatfernsehen wohl nie begreifen. Dennoch ist »Die Klinik« sehenswertes Dokutainment. Trotz des Abszesses am Po. Und wegen.
Kabel 1, 20.15 Uhr
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