Özils Denkzettel

Yücel Özdemir über den ehemaligen Hoffnungsträger im deutschen Nationaltrikot und Politiker und Firmenbosse, die Erdogan die Hand reichen

  • Yücel Özdemir
  • Lesedauer: 3 Min.

Als Özil das Nationaltrikot zum ersten Mal anzog, keimte bei unzähligen Migranten aus der Türkei die Hoffnung, eines Tages auch erfolgreich sein zu können. Vor Özil herrschte bei ihnen eher Antipathie gegenüber der deutschen Fußballnationalmannschaft, viele missgönnten ihr Erfolge und freuten sich bei Niederlagen. Als ob die Nationalmannschaft schuld sei an der Diskriminierung und dem Rassismus, der ihnen widerfuhr, und eine Niederlage die Strafe dafür wäre.

Aber nachdem Özil und weitere Migrantenkinder das Nationaltrikot anziehen durften, führte das zu einem Umdenken. Das Gefühl des Nichterwünschtseins verschwand mit der Zeit. Jetzt hatten Türkeistämmige zwei Nationalmannschaften, die sie unterstützen konnten: die türkische und die deutsche. Für das Zusammenleben war das eine positive Entwicklung, da Migranten sich endlich als dazugehörig fühlten. Özils Entscheidung für die deutsche Nationalmannschaft förderte den Integrationsprozess positiv und war gleichzeitig sein erster Denkzettel: für die türkische Nationalmannschaft.

Yücel Özdemir

Yücel Özdemir wurde 1968 in der türkischen Stadt Varto geboren. Er lebt mit seiner Familie in Köln.

Neben seinem Mathematikstudium an der Universität Istanbul war Özdemir verantwortlicher Redakteur der linken Wochenzeitschrift "Gerçek" (Realität), der Vorläuferin der Tageszeitung "Evrensel". Nach der Veröffentlichung eines geheimen Militärprotokolls, in dem es um die Bespitzelung von Kurden, Aleviten und Linken ging, machte ihm die türkische Justiz den Prozess wegen „Landesverrats“. Er flüchtete im August 1993 nach Deutschland. Seit Jahren schreibt Özdemir für "Evrensel" Berichte und Kolumnen aus Deutschland. Er gehört zu den 50 Journalisten, die beim NSU-Prozess einen ständigen Beobachterplatz erhalten haben und teilt seinen Platz mit "neues deutschland".

Wenn alles normal gelaufen wäre, hätte Özil irgendwann seine Karriere in der Nationalmannschaft ohne große Diskussionen beendet. Aber sein Ausscheiden aus dem Team ist keineswegs normal verlaufen. Denn seinen zweiten Denkzettel verpasste Özil der Integration in Deutschland. Der Hauptverantwortliche hierfür ist und bleibt Erdogan, der Özil und Gündogan für seine politischen Ziele ausnutzte. Die beiden Spieler ahnten vielleicht nicht, was sie da ins Rollen brachten, und haben eventuell auch nicht einordnen können, was sie da an Diskussionen auslösten. Aber sie gaben auch nicht zu, dass sie einen Fehler gemacht hatten. Andere, überzeugende Argumente konnten sie auch nicht liefern, um sich aus dieser Affäre zu ziehen.

Für DFB- Präsident Grindel, die Medien und konservativ-rechte Politiker war das Thema ein gefundenes Fressen, und sie machten Özil für das frühzeitige Ausscheiden der Nationalelf in der Vorrunde verantwortlich. Bewusst oder unbewusst haben sie damit einerseits die nationalistischen Kräfte in Deutschland und der Türkei unterstützt und deren Argumente gestärkt und sind andererseits in Erdogans Falle geraten.

Wir dürfen nicht vergessen, dass Erdogan das Ziel verfolgt, die Türkeistämmigen im Ausland von ihrer neuen Heimat zu isolieren. Das macht er, indem er die Unsicherheit, die entsteht, und die Vorurteile, die wachsen, fördert und sich als Retter darstellt.

Nun scheint es so, als ob Erdogans »Diasporapolitik« auch Özil vereinnahmt hat. Und das ist Özils dritter Denkzettel, für die deutsche Nationalmannschaft. Aus diesem Grund wird Özil von Erdogan und seinem Beraterstab als ein »Held« gefeiert. Sie vergleichen ihn mit Muhammad Ali und propagieren, dass das der Weg eines echten Türken sei.

Aus Özil einen Muhammad Ali zu machen, ist aber nur eine Tagträumerei. Ali weigerte sich, im Vietnamkrieg mitzumachen. Er kämpfte persönlich gegen den Krieg. Özil hat sich aber nie am Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus beteiligt.

Wir können Özil dafür kritisieren, dass er Erdogan seine Hand reichte. Özil kann natürlich auch darauf beharren, dass das sein gutes Recht ist. Was machen wir aber mit den Politikern, Firmenbossen und Rüstungskonzernen, die Erdogan die Hand reichen? Wenn die deutsche Öffentlichkeit nur ein Zehntel der berechtigten Kritik gegen Rüstungskonzerne, Wirtschaftsbosse und Politiker, die mit Erdogan kooperieren, richten würde, wären wir wesentlich weiter als jetzt.

Alles andere sind leere Phrasen. Ein Özil geht, Tausende werden kommen. Wichtig ist, sie als Teil dieser Gesellschaft anzuerkennen. Denn die unzähligen Migranten, die in Deutschland Fußball spielen, hier zur Schule gehen oder arbeiten, sind ein Teil dieses Landes und werden immer Teil des Alltags sein!

Aus dem Türkischen von Özgür Metin Demirel.

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