Zum belgischen Wunder
Martin Leidenfrost sucht Mini-Bolzplätze in Brüsseler Problemvierteln und den Multikulti-Fußball
In diesem Sommer muss man Belgien lieben. Plötzlich macht der Kunststaat nicht wegen des ewigen flämisch-wallonischen Sprachenstreits von sich reden und auch nicht wegen einem Brutnest des Terrors, sondern weil diese Belgier begeisternden Fußball spielen. Selbst dem unglücklichen EU-Beamten Staszek, dem bösartigsten aller Belgienhasser, kamen die Tränen. Er schrieb: »Dazu seit einem Monat keine Wolke auf dem Himmel. Ist das noch Belgien?«
Wenige Tage, nachdem Belgien in Moskau Platz 3 erreichte, komme ich nach Flandern. Belgische Fahnen hängen noch aus den Häusern. Ich fahre durch die berüchtigten Brüsseler Migrantenviertel. In der Betonecke eines Schaerbeeker Parks ein unübersehbares Gekicke aller Schuhgrößen und Hautfarben. Durch Molenbeek strollt ein Junge, gedankenversunken einen Ball vor sich her rollend. Brüssel versprüht seinen alten Sexappeal: marokkanisches Minzteehaus, flämisches Hipstergetue, portugiesische Schattigheit, balkanisches Rotlicht, alles fußläufig nebeneinander.
Das Fußballwunder ist schwer zu analysieren, vieles täuscht. So ist Thibault Courtois, der französische Höfling im Tor, in Wirklichkeit Flame. Zahlenmäßig dominieren elf Flamen und vier Kongolesen. Ein deutsches Nachrichtenmagazin druckte eine Ode mit dem Titel »Multikulti mit System«, hieb aber gleich mehrfach daneben: Indem der »Spiegel« die wallonischen Brüder Hazard zu Marokkanern promovierte, verdoppelte er kurzerhand den marokkanischen Beitrag. Johan Leman, ein Integrationsfunktionär und Dominikanermönch, der sich von einem islamistischen Bildungswerk einen »Fetullah-Gülen-Lehrstuhl« bezahlen ließ, wurde zum »Urvater des belgischen Fußballwunders« ausgerufen. Von den vielen Mini-Bolzplätzen, die Leman angeblich in Problemvierteln pflanzen ließ, sind aber kaum welche aufzufinden.
Ich besuche in Anderlecht den Klub des Nationalspielers Vincent Kompany. Dem »Spiegel« passte es in den Kram, die Herkunft des »BX Brüssel« in Molenbeek zu verorten, in Wahrheit kaufte Kompany den bankrotten wallonischen Klub »BX Bleid«, um mit seinem Jugendförderprojekt in der dritten nationalen Liga einsteigen zu können. Kompanys BX Brüssel stieg auch gleich ab und hält nun in der ersten Brüsseler Provinzliga. Der neue, von der Kommune finanzierte Kunstrasenplatz ist voller kickender Kinder. Der BX Brüssel betreut über tausend Jungs. 70 Prozent, schätzt der Klub, leben unter der Armutsgrenze.
Ich spreche Kompanys Vater Pierre. Der hemdsärmelige Senior - »wir waren jung und schön und hatten zu viel Mut« - flüchtete vor Mobuto aus Kongo, war Ingenieur am Brüsseler Flughafen und ist nun Regionalabgeordneter für die in Humanisten unbenannten Christdemokraten. Bei der Nennung des Namens Leman winkt er ab, auch mit Politik habe das Wunder sicher nichts zu tun. Und die Mini-Bolzplätze? »Das ist nichts Besonderes. Wenn die Jungen spielen wollen, spielen sie überall.« Später fügt er hinzu: »Hast du je ein Mini-Foot-Spiel gesehen? Wer sind dort die stärksten? Die Maghrebiner!«
Kompany sieht Multikulti durchaus als Teil des Erfolgs. Wenn auch nicht - siehe der Finaleinzug Kroatiens - als ein Muss: »Bei den Kroaten heißen alle ITSCH. Die kamen aber noch aus den Ausbildungszentren des alten Jugoslawien.« Ich frage ihn: »Gibt es eine belgische Kultur?« - »Ba oui!« - »Warum sprechen die Spieler dann untereinander Englisch?« - »Englisch? Du meinst wohl Holland oder Schweden. Unsere Spieler können fast alle Französisch und fast alle Flämisch!«
Kompany lobt, dass der Fußball immer noch die sozialen Klassen durchmische, »Arme und Reiche kommen zusammen.« Leider, sagt er, begleiten Einwanderer ihre Kinder immer noch selten zum Fußball. Sein Sohn Vincent, der in Manchester spielt, begründet sein Engagement so: »Manchester ist stärker aus den Anschlägen gekommen, Brüssel nicht.« Vater Pierre stimmt zu: »In Manchester war es nach einem traurigen Anschlag vorbei. Hier geht es um unsere eigenen Kinder.«
Im Musenpark von Molenbeek finde ich schließlich einen Mini-Bolzplatz. In diesem Jahr von der Cruyff-Stiftung errichtet, nach anderthalb Tagen schon verwüstet, nun knallen Bälle auf die Metallumzäunung. Am Rande macht eine Vollverschleierte ihrem Sohn den Torwart. Auch sonst Multikulti, am verbissensten kicken tatsächlich zwei Jungs im Nationaltrikot von Marokko. Immerhin fluchen sie dabei auf Französisch.
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