Eine Frage, die jeden betrifft
In Russland protestierten mehrere zehntausend Menschen gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters
12 000 Menschen haben am Samstag in Moskau gegen die von der russischen Regierung geplante Erhöhung des Renteneintrittsalters demonstriert. Aufgerufen zu der Kundgebung hatte die Kommunistische Partei KPRF. Auch in anderen Städten, wie beispielsweise in Wladiwostok, Chabarowsk und Kasan, fanden Proteste statt. In Jekaterinburg zählten die Veranstalter über 5000 Teilnehmende. Damit mobilisierten sie an dem sommerlich heißen Protestwochenende deutlich mehr Gegner der Regierungspläne als am 18. Juli, kurz vor der ersten Lesung des umstrittenen Gesetzes in der Duma.
Auf T-Shirts und Plakaten waren auf dem Moskauer Sacharow-Prospekt zuhauf Referenzen an die sozialen Grundsätze der Sowjetunion zu finden. Zum Ende hin stimmten die Versammelten Lieder aus Kriegszeiten an und wie auf jeder Veranstaltung der KPRF fielen etliche Stalin-Portraits ins Auge. Das alles trifft nicht auf ungeteilte Zustimmung, so dass in Moskau gleich mehrere Kundgebungen angemeldet worden waren. Wenngleich die KPRF einschließlich Gewerkschaften in der Hauptstadt bislang das zahlenmäßig größte Protestpotenzial an den Tag legten, braucht es eine breitere Beteiligung jenseits dieses überschaubaren politischen Spektrums. In den vergangenen Wochen versäumten regierungsnahe Politiker und Medienmacher keine Gelegenheit, die angestrebte Rentenreform nicht nur als alternativlose, sondern gar lebensverlängernde Maßnahme anzupreisen. Von derlei Äußerungen fühlen sich viele Menschen vor den Kopf gestoßen.
Am Freitag lehnte die zentrale Wahlkommission einen Antrag der KPRF auf ein landesweites Referendum ab. Die darin enthaltene Fragestellung nach dem Einverständnis, wonach Rechtsansprüche auf eine Altersrente nicht erst mit Erreichen eines höheren Alters fällig werden sollen, könne zu Verwirrung führen.
Es dürfe jedoch ein neuer Antrag eingereicht werden, so die Kommission. Schließlich betreffe die Rentenfrage jeden. Parlamentssprecher Wjatscheslaw Wolodin vertritt hingegen die Ansicht, es reiche aus, Vorschläge für Nachbesserungen an dem Gesetzesentwurf in der Duma zu diskutieren und kritisierte die Protestkundgebungen als wenig hilfreich für die anstehende Ausgestaltung der Rentenreform.
Vor der Abstimmung im Parlament am 19. Juli, bei der die handzahmen parlamentarischen Oppositionsparteien komplett gegen den Entwurf gestimmt hatten, war eine inhaltliche Debatte gar nicht erst vorgesehen. Erst im September findet die zweite Lesung statt. Bis dahin will die für abstruse Initiativen bekannte Abgeordnete des Einigen Russlands und ehemalige Generalstaatsanwältin der Krim, Natalja Poklonskaja, einen eigenen Entwurf vorlegen. Ihre Gegenstimme blieb die Einzige in ihrer Partei. Einige ihrer männlichen Parteikollegen waren zu der betreffenden Sitzung gar nicht erst erschienen. Einer davon, Sergej Shelesnjak, stellvertretender Sekretär des Generalrats der Partei, reichte inzwischen aus eigener Initiative, wie es heißt, seinen Rücktritt ein.
Währenddessen steigt der Druck auf Poklonskaja, die gegen die Fraktionsdisziplin verstoßen habe und deshalb ihr Mandat abgeben solle. Innerhalb der Partei mag es durchaus Skepsis an der unpopulären Anhebung des Renteneintrittsalters für Männer auf 65 und für Frauen auf 63 geben. Aber eine dem Regierungsvorhaben entgegengesetzte öffentliche Positionierung gefährdet die politische Karriere. Ende Juni entließ die Parteileitung ihren für Jaroslawl zuständigen Sekretär Michail Borowizkij, nach dem sich dieser für eine langsamere Gangart in der Rentenfrage ausgesprochen hatte.
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