Der Sozialstaat ist unbezahlbar!

Entgegen aller Zahlenspiele ist Deutschland nicht sozialer geworden

  • Roberto J. De Lapuente
  • Lesedauer: 4 Min.

Letzte Woche ließ die Bildzeitung die Öffentlichkeit wissen, dass wir 2017 so sozial waren wie nie zuvor. Immerhin hätten wir ja auch so viel Geld in den Sozialsektor gesteckt wie nie. 36,5 Milliarden mehr als noch 2016. Fast eine Billion Euro war uns das Soziale folglich wert. Arbeitgeber und FDP kritisierten das natürlich umgehend. So eine Debatte wollte die Bildzeitung freilich auch entfesseln, die Zahlenspiele sollten abschrecken und Angst machen, dass sich Leistung am Ende also doch nicht mehr lohne. Dass sich die Aussagekraft dieser Zahl am Bruttoinlandsprodukt (BIP) orientieren müsste, darüber ließ man sich dann nicht weiter aus. 29,6 Prozent des BIP waren es nämlich, die ins Soziale flossen. Wenig mehr als 2016, mehr oder weniger so viel, wie in den letzten 25 Jahren auch. Dass Deutschland also zum Hypersozialstaat geworden wäre, kann man rechnerisch nicht nachvollziehen.

Dass wir angeblich im SozDaZ, im sozialsten Deutschland aller Zeiten, leben sollen, neutralisierte dann eine Meldung, die zeitgleich mit den 965,5 Milliarden Euro eine Nachricht wert war: Es fehlen nämlich Sozialwohnungen. Die minimierten sich gewissermaßen jährlich. Etwas mehr als 1,2 Millionen gab es im Jahr 2017 noch – das waren 46.000 weniger als noch 2016. Einige Stunden vorher konnte man außerdem noch lesen, dass laut Statistischem Bundesamt Alleinerziehende ganz besonders von Armut bedroht seien. Von den vielen Kindern, die in Deutschland in oder ganz knapp an Armut leben, ganz zu schweigen. Ferner sind seit Jahren etwa 20 Prozent der Menschen in der Bundesrepublik von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht – so stellt es ebenso das Statistische Bundesamt Jahr für Jahr aufs Neue fest.

Das sind keine gefühlten Realitäten, kein Bauchgefühl: Das sind messbare, auch sichtbare Entwicklungen. Der Sozialstaat mag zwar jährlich absolut betrachtet höhere Summen verursachen. Relativ und vom BIP isoliert bewertet sagt das aber wenig aus. Zu berücksichtigen wäre noch, dass der Anstieg auch mit Altlasten zu tun hat. So zahlt man etwa weiterhin Pensionen für ehemalige Postbeamte, verdient aber an der privatisierten Post nichts mehr. Außerdem weist der Posten natürlich auch die Kosten für den Asylkomplex mit aus, sodass man festhalten kann, dass sich der Anstieg schon alleine dadurch amortisiert. Zahlen haben also nicht immer absolute Aussagekraft.

Die Skandalisierung der steigenden Kosten bei den Sozialausgaben ist freilich eine Masche. Neoliberale Denkfabriken haben weiterhin ein reges Interesse daran, den Sozialstaat zu diskreditieren. Indem sie ihn jetzt als Kraken skizzieren, als gierigen Schlund, in dem die Volkswirtschaft ihre Werte vermeintlich verbrennt, bringt man die Debatte mal wieder zeitweise auf das Thema. Denn auch in Zeiten, da die Öffentlichkeit den Sozialstaat thematisch vernachlässigt, darf schließlich nie vergessen werden, Werbung für einen schlanken Staat zu machen, der die Lebensrisiken der Menschen nicht mehr reguliert, sondern sie ignorant ausblendet.

Es ist der infame Versuch, den Sozialstaat als unbezahlbar hinzustellen. Dabei stimmt diese Ansicht vollkommen. Der Sozialstaat ist unbezahlbar! Nicht monetär, eher dem übertragenen Sinne nach. Er ist nicht nur, wie das die Sozialstaatsverächter gerne betonen, eine Versicherung für die »kleinen Leute« der Gesellschaft. Ganz wesentlich ist er ebenso eine Versicherung für all jene, die den Sozialstaat aufgrund ihres Wohlstandes nicht benötigen. Also auch für Leute, die jetzt arrogant so tun, als müsse in puncto Sozialstaat wieder mal die Notbremse gezogen werden. Denn ohne den Ausgleich, den ein Sozialstaat zu schaffen bemüht ist, stehen die piekfeinen Villen der über den Sozialstaat Erhabenen auch nur auf Sand.

Der soziale Frieden ist ja kein reines Verstandesprodukt besonnener Menschen: Er resultiert aus dem Umstand, dass die Menschen eine gewisse Absicherung erfahren, nicht plündern müssen, wenn sie ihren Job verlieren. Selbst diejenigen, die sozialstaatliche Leistungen nie brauchen werden, profitieren von ihm. Dieses Wissen scheint aber im Verlauf der letzten Jahrzehnte des Sozialabbaus in dieser Kaste verlorengegangen zu sein. Sie haben den Sozialstaat geschliffen, Ansprüche runtergeschraubt und dafür gesorgt, dass er nicht mehr den Fall in die Armut verhindert, sondern den Verbleib darin zementiert.

Trotz steigender Kosten bei den Sozialausgaben hat der soziale Frieden gelitten – und das ist der eigentliche Skandal an der Sache. Selbst diese knappe Billion reicht nicht aus, um den internen Frieden neu zu etablieren. Bei vielen kommt der Sozialstaat wohl nicht mehr an.

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