Verhüllung und Enthüllung
»Der große Ausverkauf«, ein Dokumentarfilm über »Privatisierung«
Die philippinische Krankenschwester, die den erschreckenden Folgen der »Privatisierung« des Gesundheitssystems in ihrem eigenen Land entfliehen wollte, ist höchst erstaunt, als sie das Hochhaus der Charité rundum mit Planen verhüllt sieht, auf denen für »Absolute Redefreiheit« geworben wird. «Was soll denn das bedeuten? Da müssen die Patienten ja im Dunkeln liegen. So eine Rücksichtslosigkeit!!« Der Hintergrund: Eine private Telefongesellschaft finanziert mit der Verhüllung des Hauses die seit langem fällige Renovierung der ehrwürdigen Charité, da sich das Gesundheitswesen, selbst im reichen Deutschland, die notwendigen Gebäude-Arbeiten nicht mehr allein leisten kann. Themen wie dieses prangert der 33-jährige Regisseur Florian Opitz mit seinem Dokumentarfilm »Der große Ausverkauf« pünktlich zum G 8-Gipfel als Auswüchse des Kapitalismus an, indem er die Gesundheits-Misere in der philippinischen Stadt Manila, die Strom-Sperre in Soweto in Südafrika und die Wasserversorgung in Cochabamba in Bolivien zeigt, um die wahre Bedeutung des schönrednerischen Begriffs »Privatisierung« zu enthüllen. Er beweist, was die Schaltstellen der Wirtschaft, also die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und die Welthandels-Organisation, die geschaffen wurden, um den Armen dieser Welt zu helfen, in Wirklichkeit darunter verstehen: die reine Gewinn-Maximierung auf Kosten der armen Entwicklungsländer. Aber auch in Europa hat Opitz für die Ausdehnung privatwirtschaftlicher Geschäftsmethoden auf ehemals staatliche Bereiche ein einleuchtendes Beispiel gefunden: Seit Englands Bahn »British Rail« unter der Regierung Thatcher 1997 an mehr als 150 unterschiedliche private Firmen verkauft wurde, gab es nach jedem Firmenwechsel inzwischen viermal komplett neue Uniformen für die Bediensteten. Das verstehen die Unternehmen anscheinend unter Wettbewerb. Doch in die Infrastruktur wurde Null investiert: Das Schienennetz nicht gepflegt, geschweige denn erneuert, und die Fahrpläne überhaupt nicht mehr aufeinander abgestimmt. Die Folge: Es kam zu zahlreichen tragischen Zugunglücken. Mit dem englischen 37-jährigen Lokführer, Gewerkschafter und Motorrad-Fan Simon zeigt Opitz uns einen seiner vielen »einfachen« Menschen, die den Privatisierungs-Hokuspokus durchschauen und dem Zuschauer auf so eindrückliche Weise erklären können, dass Privatisierung nichts anderes bedeutet als Ausverkauf von staatlichen Unternehmen. Simons Analyse: Damit passiert auch der leise Rückzug der Gesellschaft aus ihrer kollektiven Verantwortung. Privatisierung ist ein Stück Entsolidarisierung. Rosa aus Bolivien, Mutter von fünf Kindern, gilt als Ikone des berühmten Wasserkrieges der Andenstadt Cochabamba. Die 60-jährige zarte Frau stellt sich vor einen Polizisten in voller Kampfausrüstung, um ihn am Zuschlagen auf andere Demonstranten zu hindern. Rosa resümiert: »Sie haben alle Fabriken, die Telefongesellschaft, unsere Bahn, unsere Fluglinien und unsere Bodenschätze privatisiert. Als sie auch noch unser Wasser privatisieren wollten, da mussten wir kämpfen. Wasser ist unser Leben, und das kann man doch nicht privatisieren!« Seit Übernahme der Grundversorgung 1999 durch den US-Konzern Bechtel betrug der Wasserpreis ein Drittel der durchschnittlichen Einkommen und es wurde den Bürgern verboten, Wasser aus Seen und Flüssen zu entnehmen. Sogar das Sammeln von Regenwasser wurde unter Strafe gestellt. Bechtel aber wurde die traumhafte Rendite von 16 Prozent bis 2039 (!) garantiert. Im Wasserkrieg starben sieben Menschen, aber der Sieg gehörte den Andenbewohnern. Am tragischsten ist wohl das Schicksal des 32-jährigen Bongani aus Soweto, der mit seinen »Guerilla-Elektrikern« die vom privaten Stromanbieter »Escom« gekappten Leitungen wieder zusammenflickte. Damit verhalf er vielen armen Familien wieder zu einem einigermaßen normalen Leben. Vier Monate nach den Dreharbeiten starb Bongani auf bisher ungeklärte Weise. Vier Jahre hat Florian Opitz sein Engagement für die Enthüllungen der dreisten kapitalistischen Methoden gekostet. Aber diese Investition hat sich gelohnt: Wir sind gewarnt, was der euphemistische Begriff »Privatisierung« bedeutet für unsere Post, unsere Bahn und and...
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