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Goliath gegen David

Die Militärintervention in der ČSSR 1968 und warum der Westen stillhielt

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 6 Min.

Als Pflicht der Arbeiterklasse und ihrer Partei sah Karl Marx es an, darüber zu wachen, »dass die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts, welche die Privatpersonen regeln sollen, als die obersten Gesetze des Verkehrs von Nationen geltend gemacht werden«. Die Außenpolitik des realen Sozialismus vor einem halben Jahrhundert wich davon ab. Als die Prager Reformkommunisten ihr Aktionsprogramm vom April 1968 »Der tschechoslowakische Weg zum Sozialismus« umsetzten, »mehr Demokratie wagten« und nationale Interessen ihres Landes wahrnehmen wollten, schrillten in Moskau alle Alarmglocken. Auch in Warschau, Sofia, Budapest und Ostberlin wurde der sozialistische Erneuerungsprozess in einem Bruderland als »kapitalistische Restauration« diffamiert und ein Ausscheiden der ČSSR aus dem Warschauer Vertragsbündnis befürchtet.

Nachdem der politische Druck auf die tschechoslowakische Führung unter Alexander Dubček keinen Erfolg brachte, entschied die Kremlführung, militärisch zu intervenieren. Ab den Abendstunden des 20. August 1968 drangen 800 000 Soldaten, flankiert von 7500 Panzern, 1000 Flugzeugen und 2000 Artilleriegeschützen in die ČSSR ein und besetzten das Land innerhalb von 36 Stunden.

Die Nachricht von der Invasion schlug in Prag wie eine Bombe ein. Ministerpräsident Oldrich Černik teilte am 20. August kurz vor Mitternacht Parteichef Dubček mit, dass der inzwischen vom KGB inhaftierte Verteidigungsminister Martin Dzúr ihn noch kurz zuvor über den »brüderlichen Einmarsch« informiert habe. Eingeweiht waren in den Coup allerdings schon länger vier der elf Präsidiumsmitglieder der KPČ: Vasil Bilak, Drahomir Kolder, Oldrich Svestka und Emil Rigo. Sie hatten dem sowjetischen Generalsekretär Leonid Breschnew am 3. August einen »Einladungsbrief« zur »Rettung des Sozialismus« in der ČSSR überreicht. Sie sorgten auch dafür, dass ab dem 20. August die 7. Luftlandedivision der Sowjetarmee den Flughafen Ruzyné bei Prag ungehindert anfliegen konnte.

Verständlich, dass sie dann auch nicht dem Aufruf des KPČ-Präsidiums zustimmten, der vehement die Intervention verurteilte und die tschechoslowakische Bevölkerung darüber in Kenntnis setzte, dass die sogenannte »militärische Hilfsaktion« ohne Wissen der Prager Partei- und Staatsführung stattfand und den Grundnormen der Beziehungen zwischen sozialistischen Staaten sowie dem geltenden Völkerrecht widersprach. Die sofort einberufene Nationalversammlung und der am 22. August quasi illegal tagende Außerordentliche Parteitag der KPČ in einer Fabrikhalle in Prag-Vykočany verurteilten ebenfalls den Einmarsch, forderten den Abzug der ausländischen Truppen und riefen zu gewaltlosem Widerstand auf.

Am 21. August entführte der sowjetische Geheimdienst die gesamte Staats- und Parteiführung - außer den Kollaborateuren - in die Karpatoukraine, darunter Dubček und Černik, die Vorsitzenden der Nationalversammlung und der Nationalen Front, Josef Smrkovsky und Frantisek Kriegel, sowie die Parteichefs von Prag und Südmähren, Bohumil Śimon und Josef Špaček. Es gelang Moskau jedoch nicht, die pro-sowjetischen Politiker in Prag an die Macht zu hieven. So blieb die Invasion ein Pyrrhussieg.

Der im März des Jahres zum Präsidenten gewählte Ludvík Svoboda, ein Nationalheld im Kampf gegen den deutschen Faschismus, der unter seinen Landsleuten hohes Ansehen genoss, befahl der 200 000 Mann zählenden tschechoslowakischen Armee, keinen Widerstand zu leisten und in den Kasernen zu verbleiben. Ihm ist es somit zu verdanken, dass die ČSSR im Sommer 1968 kein blutiger Kriegsschauplatz wurde. Dennoch verloren bis Jahresende 94 Tschechen und Slowaken sowie elf Sowjetsoldaten ihr Leben, zumeist durch tragische Unfälle. Svoboda, der 1943 bis 1945 als Kommandeur eines tschechoslowakischen Korps an der Seite der Roten Armee sein Land von den deutschen Besatzern befreit hatte, lehnte eine von Moskau vorgeschlagene Marionettenregierung strikt ab. Am 23. August fuhr er mit einer Delegation nach Moskau und erreichte in viertägigen, zähen Verhandlungen die Rückkehr der gekidnappten Reformer - nicht nur in die Heimat, sondern auch in ihre Ämter. Sie wurden allerdings erst aus sowjetischem Gewahrsam entlassen, nachdem sie per Unterschrift zustimmten, den Reformprozess rückgängig zu machen.

Im Oktober 1968 erzwang der Kreml die Dauerstationierung sowjetischer Streitkräfte im »westlichen Vorposten« des sozialistischen Lagers. Das führte dazu, dass die zurückgekehrten, aber nun flügellahmen Reformer sich in den Augen der Bevölkerung diskreditierten und zunehmend an Einfluss und Sympathien verloren. Dubček trat im April 1969 zurück. Moskaus neuer Mann, der slowakische Parteichef Gustáv Husák, der unter dem stalinistischen Regime in Prag 1951 bis 1960 in Haft saß, trat an seine Stelle. Er sollte das Land »normalisieren«. Erneut setzte eine große Parteisäuberung ein, von der eine halbe Million Reformkommunisten betroffen waren, mit Berufsverboten belegt und außer Landes getrieben wurden. Insgesamt verließen 100 000 Tschechen und Slowaken nach der Invasion ihre Heimat.

Der »Prager Frühling« 1968 war Teil der weltweiten sozialen, politischen und nationalen Revolten und Umbrüche, wie der nationale Befreiungskampf des vietnamesischen Volkes gegen die USA und die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung gegen die Diskriminierung von 35 Millionen Afroamerikaner, Mexikanern und Puerto Ricanern, die in 85 Städten der Vereinigten Staaten in einen regelrechten Bürgerkrieg mündete. Im Mai 1968 erlebte die französische Hauptstadt Barrikadenkämpfe. Studentenunruhen erschütterten auch die Bundesrepublik Deutschland, Polen und Jugoslawien, soziale Proteste eskalierten in der Türkei, Lateinamerika und Afrika.

Die Supermacht USA war - auch angesichts der umfassenden gesellschaftlichen Krise im NATO-Block - außerstande, die Nachkriegsordnung von Jalta und Potsdam infrage zu stellen. Nachdem Präsident Lyndon B. Johnson am 20. August, um 23 Uhr, über die bereits im Gange befindliche Militäraktion vom sowjetischen Botschafter Anatoli Dobrynin erfuhr, vergatterte er die NATO-Verbündeten zur Zurückhaltung. Er nahm noch die Einladung Breschnews zu einem baldigen Gipfeltreffen über den Abbau der strategischen Waffensysteme (SALT) an und zog sich dann, am 21. August, auf seine Ranch in Texas zurück, um Urlaub zu machen.

Frankreichs Präsident Charles de Gaulle, der sein Land aus der NATO zurückgezogen hatte und seinem Sturz durch die vereinte Pariser Studenten- und Arbeiterschaft nur knapp entkommen war, verglich den sowjetischen Einmarsch in Prag mit der Landung US-amerikanischer Truppen in der Dominikanischen Republik 1965. Er beschuldigte die Bonner konservativ-sozialdemokratische Koalition unter Georg Kiesinger und Willy Brandt, ihre Einmischungen in die inneren Angelegenheiten der ČSSR hätten Moskau erst zu der Militäraktion provoziert. Er fügte an die Adresse der westdeutschen Partner hinzu, sie sollten sich demütiger gegenüber den osteuropäischen Staaten verhalten, weder Grenzrevisionen fordern noch wirtschaftlich nach Osten expandieren.

Die Bundesrepublik selbst gab nach außen hin tatsächlich kein Bild von einer lupenreinen, rechtstaatlichen Demokratie ab, hatte sie doch mit den Notstandsgesetzen ebenfalls Freiheitsrechte beschnitten. Auch London hielt sich bedeckt. In der Downing Street war man der Meinung, die NATO sei nicht dazu da, einen Mitgliedsstaat des Warschauer Bündnisses vor einer sowjetischen Intervention zu beschützen.

So blieb nicht nur der geopolitische Status quo der europäischen Nachkriegsordnung erhalten, fortgesetzt wurde zudem der in den 1960er Jahren begonnene Entspannungsprozess zwischen Ost und West. Das Opfer dafür hatten die Bürgerinnen und Bürger der ČSSR zu bringen.

Der Russland- und Osteuropa-Experte Prof. Dr. Karl-Heinz Gräfe (Jg. 1938), zum Zeitpunkt des Einmarsches in Prag zu Archivstudien in Freiberg, handelte sich wegen verbaler Kritik an der Invasion eine Parteirüge ein, konnte aber dank des Beistands seines Rektors die wissenschaftliche Laufbahn fortsetzen. Er lehrte bis 1993 Geschichte an der Pädagogischen Hochschule in Dresden und schreibt heute für verschiedene außenpolitische Journale.

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