Proteste in der Duma und davor
Wegen der Proteste gegen die Rentenreform unterbricht das russische Parlament die Sommerpause
Laut dem Gesetzentwurf von Regierung und Mehrheitsfraktion »Einheitliches Russland« aus dem Juni soll das Renteneintrittsalter für Frauen in Russland um acht Jahre auf 63 und für Männer um fünf Jahre auf fünfundsechzig erhöht werden. Diese Altersgrenzen mögen in Europa inzwischen als »normal« gelten, für russländische Verhältnisse bergen sie bislang unvorstellbare soziale, familiäre, humanitäre Risiken und enormen politischen Zündstoff, was u.a. Sozialwissenschaftlerin Anna Otschkina von der Universität Pensa in ihrem Beitrag in der Zeitschrift LuXemburg belegt.
Fußball-WM und Urlaubszeit änderten nichts daran, dass unabhängige Gewerkschaften, KPRF und linke Initiativen schnell und russlandweit zahlreiche Protestaktionen auf den Weg brachten. Auch ein Referendum ist geplant. Die Staatsmacht reagierte hart: Den populären Aktivisten und Sprecher der »Linken Front« Sergej Udalzow verhaftete man erneut wegen angeblich illegaler Aktionen und verurteilte ihn zu 30 Tagen Haft. Udalzow legte dagegen Protest ein, trat in den Hungerstreik und liegt derzeit im Gefängniskrankenhaus. Um die Protestwelle zu stoppen, sah sich Parlamentschef Wolodin wohl gezwungen, trotz Sommerpause zur Anhörung einzuladen. KPRF-Abgeordnete verlegten deren Beginn als »Treffen mit Wähler*innen« einfach auf die Straße. Die Rentenreform wird als ökonomisch unsinnig beschrieben, die in der anhaltenden Wirtschaftskrise Armut weiter wachsen lässt, weil Arbeitseinkommen und Renten jetzt bereits nicht existenzsichernd sind. Außerhalb größerer Städte fehlt es an sozialer Infrastruktur, insbesondere im sibirischen Teil Russlands. Und de facto sind in Russland Rentnerinnen ab 55 als Vollzeit-Großmütter unabkömmlich: Kinderkrippen fehlen, arbeitende junge Eltern können Kinderbetreuung anders kaum organisieren oder finanzieren. In Sprechchören forderte man die Freilassung Udalzows und die Rücknahme des Rentengesetzentwurfes. Protestierende hoffen, dass am Ende Präsident Putin eingreift und die Rentenreform verhindert. Gefragt, ob sie andernfalls für die Abwahl Putins demonstrieren würde, antwortete eine Frau um die Fünfzig: »Glauben Sie wirklich, ohne Putin würde es in Russland besser?«
Die folgende Parlamentsanhörung mit fünfhundert Anwesenden hatte dann nur ein Ergebnis: Unter Leitung der Stellvertretenden Duma-Vorsitzenden Timofejewa soll eine Arbeitsgruppe das Rentenreformprojekt noch überarbeiten. Einbezogen sind auch die Ablehner der Reform, die nach Umfragen aber 90 Prozent der Bevölkerung Russlands repräsentieren, u.a. unabhängige Gewerkschafts- und Berufsverbände sowie Dumaabgeordnete der kommunistischen, sozial-gerechten und liberalen Fraktionen. Bereits jetzt liegen über einhundert Änderungsanträge im Parlament. Laut Timofejewa soll die erste AG-Sitzung bis zum 2. September stattgefunden haben. Genau für den Tag ist in Moskau bereits die nächste Protestaktion genehmigt. Da trotz Hitze und Ferien Ende Juli russlandweit Zehntausende demonstriert hatten, könnten Unruhe und Protestbereitschaft der Bevölkerung weiter zunehmen und Wirkung zeigen: Am 9. September sind in mehr als einem Viertel der föderal eigenständigen Territorien Regional- und Kommunalwahlen. Schlecht für die regierenden »Einheits-Russen«: Sie liegen in einem historischen Umfrage-Tief von unter 35 Prozent und verloren seit Januar 16 Prozent.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.