Ein Tag so lang wie ein Jahr

Vertriebene Kurden aus Afrin, einer Region in Nordsyrien, hoffen auf Rückkehr / Bündnispartner werden vermisst

  • Karin Leukefeld, Tell Rifaat
  • Lesedauer: 8 Min.

Es ist noch nicht lange her, dass ich über diese Straße nach Afrin gefahren bin. Damals markierten die weiß-blau angemalten Betonblöcke die Grenze zwischen Aleppo, der Millionenstadt in Nordostsyrien, und dem von syrischen Kurden verwalteten Kanton Afrin.

Afrin war damals der westlichste Teil von »Rojava«, wie die Kurden das Gebiet im Norden Syriens nennen, das sie in eine »Demokratische Föderation Nordsyrien« umwandeln wollen. Wer nach Afrin wollte, wurde von einem überdimensionalen Bild des in der Türkei im Gefängnis sitzenden Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans Abdullah Öcalan begrüßt.

Öcalan, der seit 1999 in der Türkei in Isolationshaft gehalten wird, wusste vermutlich nicht, was in seinem Namen im Norden Syriens geschah. Um von Syrien aus nach Afrin zu gelangen, mussten Reisende damals aus Bussen und Privatfahrzeugen aussteigen und sich ausweisen. Wer nicht aus Afrin war, sollte eine Einladung vorlegen, ein Visum beantragen. Ordnung musste sein.

Doch nun sind die blau-weiß markierten Betonblöcke zur Seite geräumt. Das Bild von Öcalan ist fort, den Grenzposten in den Kanton Afrin gibt es nicht mehr. Ein ausgebranntes Busgerippe liegt am Straßenrand. Arabische Freiwillige aus Syrien waren darin unterwegs und wollten den Kurden zu Hilfe eilen, die Ende Januar 2018 von der türkischen Armee und mit der Türkei verbündeten Milizen überfallen wurden. Eine türkische Bombe setzte der Fahrt ein Ende.

Nach Afrin kommen wir nicht mehr, es ist von der türkischen Armee und ihren Verbündeten der so genannten Freien Syrischen Armee, von turkmenischen Einheiten und der Nusra-Front besetzt. Heute wollen wir nach Tell Rifaat, um Vertriebene aus Afrin zu treffen. Joseph, der mich in Syrien begleitet, und ich müssen zum Gespräch mit einem syrischen Sicherheitsoffizier. Der Weg nach Tell Rifaat sei sicher, sagt er nach einem kurzen Gespräch. »Sie können dort mit jedem sprechen, Fotos machen, Tonaufnahmen. Viel Erfolg.« Kurz darauf fahren wir durch ein großes Tor in Richtung Tell Rifaat. Ein junger Bursche hat sich am Mittelpfosten aufgestellt, als wolle er sicherstellen, gesehen zu werden. Mit großen Augen sieht er unserem Auto hinterher, das mit dem deutlich sichtbaren Schild am Frontfenster als »Presse« gekennzeichnet ist.

Tell Rifaat nahm das Gros der Vertriebenen aus Afrin auf

Tell Rifaat liegt etwa 40 km nördlich von Aleppo, der Hauptstadt der gleichnamigen nordsyrischen Provinz. Seit 2012 war der Ort Kriegszone. Wechselnde Kampfverbände hissten in den folgenden Jahren über dem Ort ihre Fahnen. Was die Kämpfer zunächst einte, doch im Laufe der Zeit immer mehr gegeneinander aufbrachte, waren das Geld und die Waffen, die aus der nahe gelegenen Türkei geliefert wurden. Im Krieg zerstritten sich auch die Staaten, die die Kämpfer unterstützten.

Die USA stellten - gegen den Willen der Türkei - eine neue Truppe auf, die so genannten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die von den disziplinierten kurdischen Volksverteidigungseinheiten bis heute dominiert werden. Die SDF nahmen im Februar 2016 Tell Rifaat ein, die Islamische Front, Bündnispartnerin der Türkei, zog ab. Doch zwei Jahre später, im März dieses Jahres hatte sich der Wind erneut gedreht.

Vor den vorrückenden türkischen Truppen zogen sich die kurdischen Volksverteidigungskräfte über Tell Rifaat nach Kobane und Qamischli im Nordosten Syriens zurück. Mehr als 250 000 Bewohner aus Afrin und den umliegenden 360 Dörfern flohen und ließen alles zurück.

Tell Rifaat nahm das Gros der Vertriebenen aus Afrin auf, sagt Bashir, der für den Syrischen Arabischen Roten Halbmond (SARC) in Tell Rifaat die Hilfe koordiniert. Weil die Menschen aber nicht blieben, sondern weiterzögen, sei die Zahl schwer zu bestimmen. »Viele Leute aus Afrin sind trotz Warnung nach Afrin und in ihre Dörfer zurückgekehrt«, berichtet er. Andere Familien seien nach Osten, nach Kobane oder Qamischli weitergezogen. Wieder andere versuchten, nach Aleppo zu gelangen, oder sie würden von Angehörigen abgeholt, die sie mit nach Damaskus nähmen. Auch Nubl und Zahra, zwei mehrheitlich von schiitischen Muslimen bewohnte Orte, haben Vertriebene aus Afrin aufgenommen. Das UN-Büro für die Koordination von Nothilfe gab am 15. Juni die Zahl der Vertriebenen im Gebiet von Tell Rifaat, Nubl und Zahra mit 134 000 Personen an.

Um die Moschee von Tell Rifaat herrscht an diesem Morgen reges Treiben. Kinder, Frauen, Männer, Alt und Jung drängen sich vor den geschlossenen Toren, schauen über die Mauern in den Innenhof des kleinen Gebäudes. Dort sind SARC-Freiwillige mit einigen Männern dabei, die Hilfslieferungen von einem Lieferwagen abzuladen. Es gibt Pakete mit Nahrungsmitteln vom Welternährungsprogramm; desweiteren Zuteilungen der UN-Hilfsorganisation für Flüchtlinge (UNHCR). Sie enthalten Küchenutensilien wie Töpfe, Pfannen, Schüsseln, Teller, Tassen und Besteck. Sie stammen aus dem UN-Lager in Gaziantep, einer Stadt im Südosten in der Türkei.

Nur wer einen entsprechenden Zettel erhalten hat, kann eines der Pakete vom UNHCR oder des Welternährungsprogramms mit nach Hause nehmen, erzählt ein SARC-Mitarbeiter, der die Verteilung koordiniert. Die Männer vor der Mauer sind unruhig. Seit Tagen kämen sie zu der Moschee, und nie hätten sie irgendetwas bekommen, beschweren sie sich. Das System, nach dem die Hilfsgüter verteilt werden, ist den Flüchtlingen nicht klar.

Gegenüber der Moschee wird an einem gesonderten Stand von SARC-Freiwilligen Brot an die Vertriebenen aus Afrin verteilt. Viel ist es nicht, doch es reicht zum Leben, erzählt Ramadan Racho aus Bulbul. Er ist etwa 60 Jahre alt. Die Bewohner von Tell Rifaat hätten ihnen Wohnraum zur Verfügung gestellt. Alle hofften, bald wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können.

Mit älteren Männern und Frauen sitzt Ramadan Racho mitten auf einer Wiese auf Plastikstühlen. Hier treffen sie sich, hier tauschen sie Neuigkeiten aus. »Jeder Tag ist so lang wie ein Jahr«, sagt einer der Männer, der aus einem Dorf bei Afrin stammt. »Wir haben alles an die Türken verloren.« Ramadan Racho hat 850 Olivenbäume zurücklassen müssen. Er spricht etwas Deutsch, weil er früher einmal in Duisburg gelebt hat. Seine beiden Söhne und die beiden Töchter lebten heute in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, erfahre ich. Allein seine Frau sei noch bei ihm.

Als er das Aufnahmegerät sieht, möchte er eine Botschaft an seine Kinder hinterlassen. »Mein lieber Mohammad«, sagt er in Deutsch. »Ich bin jetzt in Tell Rifaat, es geht mir gut, meiner Frau geht es auch gut.« Dann spricht er seine Tochter an: »Guten Tag, meine liebe Hediye. Es geht mir gut ….«. Die Botschaft des alten Mannes an seine Kinder bricht ab. Er sucht nach Worten, schluchzt und wendet sich ab.

Wir haben nie jemanden angegriffen, wir haben uns immer nur verteidigt

Einen Tag später besuche ich Scheich Maksud, einen Stadtteil von Aleppo. Das Viertel liegt erhöht, an der Zufahrtsstraße gibt es einen Kontrollpunkt. Friedlich wehen hier die Fahnen der »Demokratischen Föderation Nordsyrien« und die syrische Nationalfahne nebeneinander. Wer nach Scheich Maksud hinein will, wird von jungen Polizisten der »Asayish«, der kurdischen Sicherheitskräfte, kontrolliert.

Mein Kommen war angekündigt, ein kurdischer Sicherheitsbeamter fährt in seinem Auto voraus zum Büro von TEV-DEM, der Bewegung für eine demokratische Gesellschaft. TEV-DEM ist die Regierungskoalition der »Demokratischen Föderation Nordsyrien«, ein Bündnis verschiedener kurdischer Parteien. Neben den beiden offiziellen Vertretern - (Frau) Suad Hassan und (Herr) Mohamed Sheikho - warten noch weitere Gesprächsteilnehmerinnen, die sich als Pressevertreter vorstellen.

Das Gespräch dreht sich um die Lage in Afrin, die Situation der Flüchtlinge, die Schwierigkeiten, alle zu versorgen, und natürlich um die politische Gesamtlage, in der die syrischen Kurden sich befinden. »Wir haben nie jemanden angegriffen, wir haben uns immer nur verteidigt«, sagt Suad Hassan, die als Lehrerin arbeitet. Russland habe sie verraten, weil es den Luftraum für die türkischen Kampfjets freigegeben und die eigenen Militärbeobachter aus Afrin abgezogen habe.

Auf die USA könne man sich auch nicht verlassen. Die suche jetzt eine Einigung mit der Türkei über Manbidsch, einen Ort östlich von Aleppo. Die Türkei aber sei von ihrem Vernichtungswillen gegen die Kurden getrieben. Scharf kritisieren die TEV-DEM-Vertreter, dass Kämpfer, die aus anderen Teilen Syriens nach Idlib oder an die syrisch-türkische Grenze abgezogen seien, sich nun in den Häusern der Kurden in Afrin und den umliegenden Dörfern niederlassen würden. »Das war zwischen Russland, der Türkei und dem Regime vereinbart«, sind die Gesprächsteilnehmerinnen überzeugt. »Ein schmutziger Deal«.

Mit »dem Regime« sei man im Gespräch, doch das föderale Modell werde nicht aufgegeben. Es sei die »Hoffnung für ganz Syrien«, beteuern die Gesprächspartner. Auf die Frage, wie sie die restliche Bevölkerung in Syrien davon überzeugen wollten, bleiben sie die Antwort schuldig.

Auf die Frage, wer angesichts der schwierigen Lage für die syrischen Kurden zuverlässige Bündnispartner sein könnten, stellen sie fest, dass alle regionalen und internationalen Akteure nur ihre eigenen Interessen verfolgten. »Wenn niemand uns unterstützt und mit uns kooperiert, werden wir auf unsere eigene Kraft vertrauen«, sagt Mohamed Sheikho. »Dann werden wir unseren eigenen Staat gründen.«

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