Deutscher Pass - russische Seele

Die Kinder der Spätaussiedler

  • Christel Sperlich
  • Lesedauer: ca. 9.5 Min.

Die sanierte Plattenbausiedlung in Berlin-Lichtenberg wird von manchen auch »Russenghetto« genannt. Hier im Kiez, südlich der Frankfurter Allee, leben vorwiegend Spätaussiedler. Seit dem Fall der Mauer kamen mehr als 30 000 Russlanddeutsche nach Berlin. Sie ergriffen die Chance auf eine bessere Zukunft, für sich und ihre Kinder.

In einer Drei-Raum-Wohnung im 10. Stock einer der Plattenbauten haben sich die Lehmanns eingerichtet. Die Lehmanns, mit deutschem Namen und kasachischer Herkunft. Sie stammen aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Almaty, früher Alma Ata, und kamen vor neun Jahren nach Berlin. Ihre Wohnungseinrichtung unterscheidet sich kaum von den meisten deutschen. Schrankwand mit Glas, Porzellan und Familienfotos. Auf dem Couchtisch eine Schale mit russischem Konfekt. Die Wände schmückt eine Tapete mit reliefartigen Blumenornamenten. Im Kinderzimmer steht Diana vor dem Spiegel. Mit dem Konturenstift gibt sie ihren Lippen Form und Farbe, tupft etwas Rouge und Glitzer auf die Wangen, verlängert die Wimpern und bürstet das lange blonde Haar. Ein letzter Blick in den Spiegel verrät wohlwollendes Einverständnis. Vor dem Kleiderschrank fällt die Auswahl schwer. Jeans oder Minirock? Auf jeden Fall bauchfrei. Stiefel, Gürtel, Handtasche - alles soll perfekt zueinander passen. An jedem Wochenende fährt Diana mit ihrer Clique in die »Russendisco«. »In den russischen Diskotheken haben wir viel Spaß. Es laufen auch russische Songs, ich verstehe die Texte und kann besser mitfühlen. In den deutschen Diskotheken fühle ich mich eher fremd«, sagt Diana Lehmann. Sie ist 17, ihre Schwester Ella 15. Beide sind ganz unterschiedlich. »Vor allem charaktermäßig«, meint Ella und schmunzelt. »Diana ist sehr modern, ein bisschen schickimicki, und hat einen völlig anderen Geschmack als ich. Auch, was Jungs anbelangt. Ich bin eher sportlich und ruhig. Trotzdem verstehen wir uns gut.« Und sie halten zusammen. Auch wenn beide deutsche Freunde haben, die meiste Zeit verbringen sie doch in der Clique, mit ihren russischen Landsleuten. Diana fühlt sich mehr zu den Russen hingezogen. »Ich bin selbst eine Russin und identifiziere mich mit dem Volk. Ich verstehe, was sie sagen oder denken. Natürlich fühle ich mich auch bei vielen Deutschen wohl, aber manches, was sie sagen, verstehe ich einfach nicht.« Besonders am Anfang verstanden die Kinder nicht, weshalb viele Menschen so unfreundlich zu ihnen waren. Familie Lehmann wohnte in drei verschiedenen Aussiedlerwohnheimen, in Brandenburg und in Berlin. Das Leben mit der fremden Sprache, die Behördengänge fielen den Eltern schwer. Die Mädchen fühlten sich hier nicht willkommen. »Am Anfang weigerte ich mich, in die Schule zu gehen, es war schwierig, als ich in die 1. Klasse kam. Alle guckten komisch. Sie sagten: Scheißrussen! Raus hier. Ich wusste überhaupt nicht, wie ich darauf reagieren sollte«, erinnert sich Diana. »Wir gingen gleich in den Kindergarten. Das war ganz neu für mich und fremd. Keiner wollte mit mir spielen, weil ich auch kein Deutsch konnte. In dieser Zeit habe viel geweint«, fügt Ella hinzu. Als Diana später mit den anderen Kindern in der Grundschule spielte und dabei auch Deutsch lernte, wurde es für sie leichter. Es dauerte gar nicht lange, und Diana sprach nur noch Deutsch. »Es war mir peinlich, als meine Eltern in der U- oder S-Bahn fuhren und Russisch sprachen. Ich sagte, pscht. Sprecht doch mal Deutsch, schließlich sind wir hier in Deutschland. Dann aber kam eine Phase, in der ich begann, wieder Russisch zu lernen. Jetzt bin ich stolz auf meine Muttersprache und möchte sie auf keinen Fall verlieren.« Zu Hause spricht die Familie mal deutsch, doch meist in ihrer russischen Muttersprache. In der Schule wird Russisch gesprochen. »Wenn wir uns mit unseren Freunden in der Pause auf Russisch unterhalten, mögen das die Lehrer nicht«, sagt Diana. Sie macht in diesem Jahr den mittleren Schulabschluss am Johann Gottfried Herder Gymnasium in Lichtenberg. Vorurteile gegen Fremde, vor allem gegen die Russlanddeutschen, hat sie hier nicht erlebt. In ihrer Klasse wird sie geschätzt und akzeptiert. Die Schülerinnen und Schüler lernten sich alle zur gleichen Zeit in der 7. Klasse kennen. Diana, die an das einfache Leben in Kasachstan gewöhnt war, auch an Disziplin und Autorität, fällt es noch immer schwer, sich auf den Unterricht in Deutschland einzustellen, wo Eigenverantwortung und Selbstständigkeit gefragt sind. »Bei einigen Spätaussiedlern merke ich kaum Unterschiede zu den deutschen Schülern, andere bleiben unter sich. Sie haben eine andere Mentalität, z.B. nehmen es einige nicht so genau mit der Pünktlichkeit oder dem regelmäßigen Unterrichtsbesuch. Hier muss sich der Schüler selbst disziplinieren. Es wird kein Druck von außen ausgeübt. Einige haben damit Schwierigkeiten.« Diana gehöre zu den Aussiedlerkindern, die sich sehr gut integriert haben, meint Frank Emma, ihr Klassenlehrer. Nach Beendigung dieses Schuljahres wird Diana von der Schule abgehen - ohne Abitur. Denn in Mathe und Englisch steht sie Fünf, dazu hat sie zwei Vieren auf dem Zeugnis. Sie ist besorgt und macht sich Gedanken um ihre Zukunft. »Ich habe Angst, keinen Job zu bekommen und zu Hause zu sitzen und dann nicht zu wissen, wie es mit mir weiter gehen soll.« Schwester Ella besucht die 9. Klasse einer Gesamt-Oberschule in Lichtenberg. Gerade absolvierte sie ein Schülerpraktikum in der Kindertagesstätte im Wohngebiet. Über dem alten Plattenbau steht »Farbklecks«. Drei Wochen lang lernte sie die Kinder kennen und besucht sie noch immer ab und zu. Ella möchte Erzieherin werden und ihr Abitur machen. Aber auch sie ist skeptisch. »Mein Notendurchschnitt ist nicht so prickelnd, aber ich gebe mein Bestes.« Ansporn erhalten die Schwestern von ihren deutschen Schulkameraden. Die seien viel zielbewusster und haben meist sehr gute Noten. Diana bewundert ihre Schulgefährten, weil sie »alles auf die Reihe bekommen«. Im Moment bereitet sich Diana auf die Abschlussprüfungen vor, besonders in Mathe und Englisch wird es ernst. »Ich muss viel pauken. Die schlimmste Alternative wäre, dass ich die Prüfung nicht bestehe und die 10. Klasse wiederholen muss.« Im Fach Musik hat sie sich mit Freundin Lidia die Musik- und Lebensgeschichte von Elvis Presley ausgesucht. Fotos, Notenblätter, Sticker, Schriftzüge werden von den beiden auf eine große Tafel geheftet, um sein Leben zu veranschaulichen. Diana und Lydia sind aufgeregt. Die Präsentation soll perfekt sitzen wie auch die Kleidung, der Hüftschwung und die Elvislocke. Das Fachwissen finden sie im Internet und im interkulturellen Freizeitzentrum »Magdalena«. Dort treffen sie auch junge Leute anderer Nationalitäten, Kurden, Türken und Polen, auch Vadim aus Sibirien. Mit ihm diskutiert Diana gern über das Leben, über Schule und Familie. Vadim lebt allein in der Stadt. Seine Eltern kehrten zurück in die Heimat. Im Gegensatz zu den Lehmanns fühlten sich Vadims Eltern in Berlin entwurzelt, nicht gebraucht. Sie blieben noch so lange in Deutschland, bis er 18 wurde. »Ich wollte nicht mit. Was ich dort machen sollte, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich gehöre hierher, trotz der Schwierigkeiten. Ich will auf jeden Fall hierbleiben«, betont Vadim. Er sieht seine Zukunft in Deutschland. Auch wenn er sich manchmal einsam fühlt. Zum Glück hat er Freunde. Doch es kränkt ihn, wenn manche Russen vorwurfsvoll fragen: »Äh Alter, was hängst du mit den Deutschen ab?« Vadim will deutsch sein, aber allein leben ist schwer. Wenn da nicht die Musik wäre. Mit Victoria aus Russland und seinen deutschen Freunden hat er die Rockband »Candl-Light« gegründet. »Sie sind wie meine Familie geworden. Ohne die Band würde ich es hier nicht schaffen.« Der Caritas-Magdalena Club ist ein Ort der Begegnung, wo es leichter wird, die eigene Identität zu finden. Die Kinder der Spätaussiedler tauschen ihre Erfahrungen aus, ziehen Vergleiche zwischen Ausländern und den Einheimischen. »Die Deutschen brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie haben immer alles Notwendige zum Leben. Ihre Eltern besorgen ihnen alles. In Russland ist es anders. Da muss man wirklich kämpfen.« Victoria war verblüfft, als sie vor drei Jahren ankam und sah, wie die deutschen Mädchen mehrmals im Monat shoppen gehen. Lidia erinnert sich an ihre ersten Eindrücke. »Hier gab es alles, Schokolade, Klamotten, ich dachte, ich sei im siebten Himmel.« Arthur Becker betreut die Jugendlichen. Selbst Spätaussiedler, kennt er ihre Probleme. »Fast alle von ihnen sind hergekommen mit sehr großen Erwartungen. Sie dachten, alles wird gut und schön, und Deutschland erwartet sie. Doch dann erleben sie diese Abneigung, auf der Straße, im Sportverein oder in der Disco. Das hat alles auf die Psyche gewirkt. Man- che von ihnen wollten nicht die deutsche Sprache erlernen. Die wollten bei ihrer eigenen Kultur und den eigenen Gewohnheiten bleiben und sich nicht integrieren.« Das Magdalenenhaus ist kein reiner Aussiedlerclub, sondern offen für Jugendliche verschiedenster Kulturen und Religionen. 27 Nationen müssen hier miteinander auskommen. Seit er besteht, sind Nationalitätenkonflikte und Randale weniger geworden im Kiez. Wenn es im Club zu Auseinandersetzungen kommt, mischt sich Ella ein. Sie fordert die Jungen auf, darüber nachzudenken, was sie eigentllich tun. Arthur Becker ist beeindruckt von ihrem Auftreten. »Wenn sie in einem Raum mit vielen "Chaoten" eintritt, wird es in ein bis zwei Minuten ruhig, es entsteht eine gelassene Atmosphäre, alle sprechen leise miteinander. Sie verliert dabei vielleicht nur ein, zwei Worte.« Auf der Straße dagegen spürt Ella, dass Zivilcourage auch Grenzen hat. »Gerade wenn man mit anderen Aussiedlern unterwegs ist, zeigen die Nazis ihren Hass gegen die Ausländer. In solchen Situationen habe ich wirklich Angst, verprügelt zu werden.« Neben dem Eingang von »Kaisers« gibt es einen Asia-Imbiss. Draußen, am Stehtisch, stehen einige Leute mit einem Bier in der Hand. Morgens, mittags, am Abend. Von hier aus haben sie die Bewohner des Kiezes im Blick, und die Spätaussiedler. Vorurteile gibt es viele. »Die hauen sich hier die Birne voll mit ihrem Schnaps, und dann fangen sie an zu stänkern.« »Die kommen hierher und machen einen Affen und versuchen, die Leute abzuziehen.« »Die fühlen sich hier wohl. Rennen mit den schicksten Klamotten rum. Ich weiß nicht, woher die das Geld haben.« »Man kriegt ja nicht viel mit. Die reden in ihrer eigenen Sprache. Die haben keinen Kontakt zu uns.« Spätaussiedler hatten nirgendwo einen leichten Stand. Wurden ihre Vorfahren nach Kriegsende als »Faschisten« im eigenen Land abgestempelt, haftet ihnen hier noch immer der schlechte Ruf als Besatzer, Frauenschänder oder Kriminelle an. Anpassung wird von ihnen erwartet. »Die kasachischen Leute sind immer freundlich zu anderen. Wenn sie jemanden besuchen möchten, brauchen sie keinen Termin zu machen. In Deutschland müssen sie immer einen Termin bestellen«, klagt Larissa Lehmann. Gastlichkeit hat eine große Bedeutung für die Familie. »Egal, auch wenn man die Leute nicht kennt, werden sie eingeladen. Man bietet ein bisschen Essen an, trinkt Tee gemeinsam und lernt sich kennen. Das ist eine gute Tradition der Kasachen«, meint ihr Mann. Zu den Traditionen der Familie gehört auch das Kochen. In der Küche steht die Mutter jeden Abend nach der Arbeit. Heute gibt's Pelmeni. Eine beliebte russische Spezialität. Vor 18 Uhr sind die Eltern nie zu Hause. Larissa Lehmann ist Diplom-Ingenieurin, weit unter ihrer Qualifikation arbeitet sie als Hilfskraft am Fließband, verpackt CDs und DVDs. Der Vater ist als Maurer bei einer Baufirma beschäftigt. Abends wird gekocht. Dann trifft sich die ganze Familie. Mit der Mutter den Teig auszustechen, gehört mit zum Ritual des Kochens. »Meine Mama ist mein Vorbild, vor allem, was das Kochen angeht. Wie sie das alles so schafft und wie alles immer schmeckt.« Diana will später auch so für ihre Kinder kochen. Mit Freude deckt sie den Tisch, gemusterte Teller, daneben das Besteck, Servietten, Kerzen, dazu legt sie eine Rose auf den Tisch. Wieder zurückzukehren nach Kasachstan, das könnte sich Ella nicht mehr vorstellen. »Ich müsste die Sprache neu erlernen und wüsste nicht, wie meine Zukunft dort aussehen könnte. Ich würde extrem unter Stress stehen, dass ich vielleicht sogar in der Psychiatrie landen würde.« Diana überlegt, was das Wort Heimat für sie bedeutet. »Hier fühle ich mich zu Hause. Wenn ich jedoch an Kasachstan denke, geht es mir immer sehr nahe. Aber ich würde nicht sagen, dass Kasachstan meine Heimat ist, sondern Deutschland. Berlin ist jetzt mein Zuhause. Und so planen die beiden Teenager auch ihre Zukunft in Berlin. Diana wird im Sommer an die Fachoberschule wechseln oder eine betriebliche Ausbildung beginnen. Ella hat sich vorgenommen, eine gute Erzieherin zu werden und später Sozialpädagogik zu studieren. Vadim hat seine 12. Bewerbung als Einzelhandelskaufmann abgeschickt. Bis jetzt bekam er nur Ablehnungen oder es gab gar keine Reaktion. Die Kinder der Spätaussiedler sind ein Teil Deutschlands, und leben doch in zwei Welten: Sie fühlen sich als Deutsche mit russischer Seele. Mit der deutschen Kultur haben sie sich arrangiert. Ihre ei...

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