Entscheidungsschlacht um Idlib steht bevor
Von drei Seiten eingeschlossene regierungsfeindliche Kampfverbände nicht zu Verhandlungen mit Damaskus bereit
Im Süden und Westen der Provinz Idlib haben die syrischen Streitkräfte Soldaten, darunter Eliteeinheiten, und schweres militärisches Gerät stationiert und warten auf den Marschbefehl. Im Norden verstärkt die türkische Armee ihre Truppen. Gleichzeitig befestigt die Türkei mit einer Fülle von Betonblöcken ihre zwölf Beobachtungsposten, die sie entsprechend dem Astana-Abkommen über das Deeskalationsgebiet von Idlib rund um die Provinz errichtet hat. Das Gebiet im Osten und Südosten der Provinz wird von Kräften aus Iran und Russland kontrolliert, was ebenfalls der Astana-Vereinbarung entspricht.
Der Astana-Prozess über Waffenstillstände, Deeskalationsgebiete und Verhandlungen zwischen den verfeindeten Seiten wird von Iran, Russland und der Türkei garantiert. Moskau und Teheran haben in Syrien andere Interessen als die Türkei, kooperieren aber dennoch seit Anfang 2017 mit Erfolg.
Die Deeskalationsvereinbarung zu Idlib ist auf sechs Monate befristet. Sie sieht vor, Angriffe zu reduzieren und den Dialog zu fördern. Ziel ist, dass die Kämpfer die Waffen abgeben und einer Vereinbarung mit der syrischen Regierung zustimmen. Lebensmittel und humanitäre Hilfe soll die Menschen erreichen, denen auch Bewegungsfreiheit zugesichert ist. Wenn nach einem halben Jahr keine Lösung gefunden ist, muss die Vereinbarung neu verhandelt werden.
Die regierungsfeindlichen bewaffneten Gruppen in Idlib sind bisher nicht zu Verhandlungen bereit. Das verbreiten sie über eigene und internationale Medien. Dennoch finden seit Wochen intensive Verhandlungen unter russischer Vermittlung darüber statt, wie eine militärische Eskalation vermieden werden kann. Diejenigen, die bereit wären, ihre Waffen niederzulegen, werden von den Hardlinern unter den Kampfverbänden massiv unter Druck gesetzt. Zum Beispiel wurden. Zivilisten, Angehörige von Versöhnungskomitees und Kommandeure, die einer Versöhnung zustimmen wollen, entführt bzw. abgesetzt.
Die Kampfverbände in Idlib - bis zu 100 000 Bewaffnete - sind wie ihre Geldgeber in der Türkei, Westeuropa und am Persischen Golf untereinander nicht einig. Bei internen Kämpfen sind seit April 2012 220 Kommandanten verschiedener Gruppen getötet worden.
Grob kann man sie in zwei Kategorien einteilen. Die einen werden international als »Terrorgruppen« gelistet und können nach den Regeln des »Anti-Terror-Kampfes« bekämpft werden. Die anderen werden im Westen, in der Türkei, den Golfstaaten und den USA als »moderate Rebellen« bezeichnet. Tatsächlich unterscheiden sie sich weder in ihrer Ideologie noch in ihrem Auftreten erheblich von der ersten Kategorie.
Zu den so genannten »Moderaten« gehören Ahrar al-Sham, Nour al-Din al-Zenki, Jaish al-Ahrar, Faylaq al-Sham, Jaish al-Issa und Reste der »Freien Syrischen Armee«. Die in Syrien verbotene und von der Türkei unterstützte Muslimbruderschaft operiert in dieser Kategorie unter verschiedenen Namen. Im Mai drängte die Türkei diese Gruppen, die sie ganz oder teilweise finanziert, zur Bildung einer »Nationalen Befreiungsfront«. So sollen sie von den als »terroristisch« gelisteten Kampfverbänden abgegrenzt und vor einem Angriff bewahrt werden. Eine wirkliche Kontrolle der »Nationalen Befreiungsfront« hat die Türkei nicht.
Zu den als »terroristisch« markierten Gruppen gehört die Nachfolgeorganisation der Nusra-Front (Al Qaida), die sich Hay’at Tahrir al-Sham nennt - Komitee zur Befreiung der Levante‘ (HTS). Nach eigenen Angaben verfügt HTS über 37 800 Kämpfer und kontrolliert Idlib. 2017 setzte sie sich in einem blutigen Machtkampf gegen ehemalige Verbündete durch. Damals entstanden neue Dschihadistengruppen wie Jaish al-Badia (2800 Kämpfer), Al Malahim (1700 Kämpfer). Die Islamische Turkestan-Front besteht aus Uiguren, einer islamischen Minderheit in China, und verfügt nach eigenen Angaben über 7700 Kämpfer.
Rund 8000 weitere Dschihadisten stammen aus den zentralasiatischen Staaten und der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Restverbände des »Islamischen Staates« halten sich im Gebiet südöstlich der Provinzen Idlib auf. Das russische »Zentrum für die Versöhnung der verfeindeten Seiten in Syrien« hat im Osten der Provinz bei Abu al-Dhuhour einen humanitären Korridor für Zivilisten geöffnet, die Idlib verlassen möchten. An die eintreffenden Familien werden Lebensmittel und Kleidung verteilt, und sie werden medizinisch untersucht. In Herjalla, einem Dorf für Inlandsvertriebene südlich von Damaskus, sollen sie vorübergehend Zuflucht finden.
Hubschrauber der syrischen Luftwaffe haben Flugblätter über Idlib abgeworfen. Der Krieg gehe dem Ende zu, und es sei »Zeit, mit dem Blutvergießen aufzuhören«, wird darauf an die Bewohner von Idlib appelliert. Sie sollten der Versöhnung zustimmen, »wie unser Volk es in anderen Teilen Syriens gemacht hat«.
In Damaskus befragte ich Syrer zu Idlib. Keiner stimmte einer Versöhnung mit den ausländischen Kämpfern zu. Naji M., ein pensionierter Richter kritisierte, einige Medien würden mit ihren Berichten zu Idlib die »Kriegstrommeln schlagen«. Das sei »die Sprache des Geldes«, die Medien wollten mit Krieg Geld verdienen. Elia Samman, Berater des Ministers für Nationale Versöhnung, geht davon aus, dass die Lage in Idlib in einigen Wochen, vielleicht in zwei Monaten, geklärt sei. Es gebe eine Menge Angebote von Regierungsseite an die syrischen Kämpfer, wenn sie die Waffen niederlegten. Wer das ablehne, müsse die Konsequenzen tragen.
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