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Lebensrealitäten in Kurdistan

Kerem Schamberger und Michael Meyen haben ein facettenreiches Buch über die Kämpfe in den kurdischen Gebieten vorgelegt

  • Anselm Schindler
  • Lesedauer: 4 Min.

In den letzten Jahren wurde so viel zu Kurdistan, der kurdischen Bevölkerung und ihrem Auflehnen gegen die Regime im Nahen Osten publiziert wie selten zuvor. Das liegt vor allem daran, dass die Konflikte in der Türkei und in Syrien, wo viele Kurden leben, in den vergangenen Jahren immer wieder die Medien dominierten. Es gibt trotzdem noch viel zu erzählen, einzuordnen und natürlich auch viel zu tun. Das macht ein neues Buch deutlich, das in diesen Tagen im Münchner Westend Verlag erscheint.

Die Medienwissenschaftler Kerem Schamberger und Michael Meyen lassen in ihrem Werk »Die Kurden - ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion« Protagonist*innen der »kurdischen Sache« zu Wort kommen. Darunter sind vor allem Aktivist*innen, Jounalist*innen und Wissenschaftler*innen. Sie lassen die Menschen erzählen, was in Kurdistan vor sich geht. Aus erster Hand. Schwerpunktmäßig geht es dabei um den Widerstand der Kurd*innen und ihrer Unterstützter*innen gegen das AKP-Regime in der Türkei und seine Vorgängerregierungen. Auch der irakische und iranische Teil Kurdistans finden im Buch ihren Platz. Schamberger und Meyen gehen auch auf den radikaldemokratischen Aufbruch in Rojava ein, auf die Revolution in den kurdischen Gebieten Nordsyriens, die seit einiger Zeit auf arabische Gebiete übergreift.

Das Buch ist mehr als eine Chronik der Geschehnisse in Kurdistan, Syrien und der Türkei. Es ist ein facettenreicher und spannender Einblick in die Lebensrealitäten von Menschen, die den Kampf für ein friedliches und freies Zusammenleben in den kurdischen Gebieten zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben. Eine von ihnen ist Rosa Burc. Sie ist 1990 in Bielefeld geboren. Ihre Mutter ist armenische Türkin, der Vater jesidischer Kurde. Der Ort Burc an der türkisch-syrischen Grenze, aus dem die Familie kommt, leerte sich nach dem türkischen Militärputsch von 1980. Dieser richtete sich in erster Linie gegen linke türkische und kurdische Kräfte im Land, Zehntausende Menschen verschwanden, wurden gefoltert oder getötet.

Die Eltern von Rosa, ebenfalls Linke, retteten sich nach Europa, ihre Mutter ist mit ihr schwanger. Aus dem Exil wird eine zweite Heimat, obwohl das Herz an der ersten hängt. Rosa wächst zwischen Demonstrationen und Arbeiten im kurdischen Gesellschaftszentrum auf, in dem ihre Eltern aktiv sind. Um sich über Wasser zu halten, arbeiten beide bei der Post.

Die Verhaftung des PKK-Mitbegründers Abdullah Öcalan 1999 und die Vertreibung der PKK-Guerilla in die Kandil-Berge des kurdischen Nordirak, trifft auch die kurdische Exil-Gemeinde in Deutschland hart. Lange hat man gebangt, gehofft und gekämpft für eine demokratische und solidarische Lösung der »Kurdenfrage«, dass der Konflikt endlich friedlich beigelegt werden kann. 1999 liegen diese Hoffnungen in Scherben. Rosa ist zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt. Ihre Kindheit und Jugend ist geprägt von den Entwicklungen in Türkisch-Kurdistan, auch wenn sie in Deutschland aufwächst.

Meyen und Schamberger lassen den Gesprächspartner*innen in ihrem Buch viel Platz für ihre Ausführungen. »Die Kurden« ist nicht von außerhalb geschrieben, nicht nur beobachtend. Es ergreift auch Partei. Das ist eher ungewöhnlich für zwei Autoren, die viel Zeit an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität verbringen - im positiven Sinn. Die Einblicke in dem Buch sind deshalb gelungen, weil sich die Fachkenntnisse des Aktivisten Schamberger, selbst halb Deutscher, halb Türke, und die journalistischen Fähigkeiten des Kommunikationswissenschaftlers Meyen gut ergänzen.

Immer wieder scheinen, und das macht das Buch um so mehr für den deutschsprachigen Raum relevant, Verbindungen zwischen Kurdistan und Europa auf. Über die Flucht- und Migrationsgeschichten der Protagonist*innnen, die im Buch zu Wort kommen. Über die vielschichtigen düsteren Beziehungen zwischen türkischen und deutschen Staaten, beginnend mit der Waffenbrüderschaft des Osmanischen und des Deutschen Reiches. Und natürlich über eine gemeinsame positive Perspektive. Nicht wenige Menschen aus Europa, gerade Leute aus linken Zusammenhängen, zeigen sich nicht nur solidarisch mit dem Kampf in den kurdischen Gebieten, sondern holen sich von dort auch Inspirationen, um in Europa neue Wege zu gehen.

Kerem Schamberger, Michael Meyen: Die Kurden - Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion. Westend, 240 Seiten, 19 €.

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