Die Erinnerung ist aufschlussreich
Der Schriftsteller Gabriel Trujillo Muñoz über das Erbe der 68er in Mexiko
Wie erinnert man sich in Mexiko heute der 68er-Bewegung?
Wie an ein historisches Ereignis, das aber für ein Land wie das unsrige noch von Relevanz ist.
Wie meinen Sie das?
Mexiko ist ein Land, das nicht bereit ist, den Mantel der Heimlichtuerei abzulegen und offenzulegen, was die Macht schafft und was sie vernichtet. Mit dem Auftauchen der Truppe, die jüngst, am 6. August, protestierende Studierende auf dem Campus der UNAM attackierten, ist erneut demonstriert, dass der Gebrauch von Gewalt immer noch über dem offenen Dialog steht. Die Erinnerung an 68 ist aufschlussreich, nicht nur für das, was damals in Mexiko geschah, sondern für das, was es noch heute ist. Ein Land zwischen Borniertheit und Offenheit.
Sie wurden im Norden Mexikos geboren. Was wurde dort über die Studentenproteste in Mexiko-Stadt gedacht?
Die Menschen aus Mexicalí akzeptierten die offizielle Version der Ereignisse, ohne sie zu hinterfragen. Sie glaubten, die Studierenden gingen zum Studieren und nicht zum Protestieren an die Uni. Und dass die 68er Bewegung ein Komplott der Kommunisten war. Dass die Polizei und die Soldaten, die auf die Protestierenden einschlugen und schossen, korrekt handelten. Autoritarismus herrschte auf allen Ebenen der mexikanischen Gesellschaft. Die harte Hand des Präsidenten Gustavo Díaz Ordaz war die harte Hand eines patriarchalischen Familienvaters, des Lehrers, des Unternehmers, eines Bischofs. Man forderte für alle Lebensbereiche Ordnung ein. Deswegen ist die Bewegung der 68er so wichtig: Mit ihr begann eine neue Form des freieren, demokratischeren sozialen Verhaltens. Sie stellten sich der weit verbreiteten Repression entgegen, indem sie alles hinterfragten.
Was ist denn nun aber das Erbe der 68er in Mexiko?
Das beste Vermächtnis ist, dass sie auf individuelle Freiheit gesetzt haben, ohne ihre gesellschaftliche Verantwortung zu vergessen. Sie machten deutlich, dass die Straße allen gehört und nicht dem Monopol der Regierung, der Unternehmer oder Kirche unterliegt. Dass die Gemeinschaft der Weg ist, um friedlich zu leben und ein Land zu schaffen, in dem jeder seinen Platz hat, jeder unentbehrlich ist. Worin sie vielleicht scheiterten, war ihr Glaube, Mexiko über die akademische Welt verändern zu können. Dass es mit handfesten, überzeugenden Argumenten möglich wäre, sich den Gewehren und Schlagstöcken der monolithischen Staatsmacht entgegenzustellen und unverletzt aus allem herauszukommen. Der abstrakte Wunsch nach Frieden konnte den Regierungskräften, die sie so entschieden unterdrückten, nicht die Liebe zum Krieg nehmen. Das war offensichtlich.
Inwieweit glichen jene Studenten ihren Mitstreitern in Berkeley, Paris, Frankfurt am Main oder Prag? Worin unterschieden sie sich?
Die Unterschiede lagen im sozialen Kontext. In allen Fällen, die Sie erwähnen, ging es um das Ziel, sich von Gewohnheiten zu befreien, sich gegen eine Erwachsenenwelt aufzulehnen, die ein Synonym war für Scheinheiligkeit und Korruption, mit unverrückbaren Normen und Regeln. In
In Mexiko gab es kein spezifisches Thema wie der Vietnamkrieg etwa für die Studierenden war, noch ging es um den Kampf gegen eine ausländische Macht, wie in Prag. Sich von der atomaren Bedrohung und dem Kalten Krieg zu befreien, wie in vielen Protesten in Europa, stand nicht im Vordergrund. Das mexikanische 68er Jahr glich eher den Protesten in Paris, der Sehnsucht, das Unmögliche zu erreichen, mit offenen Augen zu träumen. Die Jugend wollte sich von moralisierender Aufsicht befreien, eigene Wege gehen. Die Menschen in Mexiko wollten frei sein, ihren eigenen Willen artikulieren, die Gesellschaft abstreifen, die eine solche Freiheit als einfache Libertinage abtat. Die jungen Generation war es leid, dass man sie als Beispiel der Zukunft des Landes präsentierte, der man aber keine reale Macht gestattete, das Land zu verändern, es zu verbessern. Es galt: jetzt oder nie.
Die Universitäten und Fachschulen entwickelten sich während der Proteste zu Bastionen für Debatten. Nach Elena Poniatowska ist dies die Konsequenz für das Fehlen von politischen Parteien gewesen. Wie sieht das heute aus?
Im 21. Jahrhundert sehen wir in den Parteien keine Lösung für unsere Probleme, sie sind vielmehr die Verantwortlichen für die Probleme. Es sind Bürger mit, aber auch ohne Parteibuch, die den Unterschied machen. Das haben wir beispielsweise in den Reaktionen der Menschen nach den Erdbeben von 1985 und 2017 gesehen. Sie waren solidarisch, halfen sich gegenseitig. Die Universitäten heute sind nicht alle Bastionen der Dissidenz, aber der Diskussionen über das Land, das wir sein wollen. Sie bieten den Räume, wo sich unsere nationalen Projekte entscheiden, unsere Realitäten, die zu ändern sind, der Probleme, die es zu lösen gilt. Das können wir aktuell in den Protestmärschen in Mexiko-Stadt gegen die Präsenz der »porros«, der Schocktruppen, sehen, die die Studenten der UNAM einschüchtern wollten.
Was steht im Kontext der porros konkret zur Debatte?
Ein Großteil der universitären Proteste stammt aus dem Kampf um die universitäre Autonomie, ein Recht, das alle öffentlichen Universitäten in unserem Land besitzen. Deswegen begann die Debatte 1968 aufgrund des Eindringens des Heeres in die Räume der UNAM. Jetzt, mit den porros, ist eine Debatte darüber entfacht, ob die brenzlige Situation von den eigenen Autoritäten der UNAM gelöst werden soll oder über die Intervention der Sicherheitskräfte des Staates. Die Studentenbewegung des Jahres 2018 entzündete sich an der Erhöhung der Studiengebühren und ging in einen Protest gegen den porrismo über, gegen paramilitärische Gruppen, die bestimmte Räume der Universität kontrollieren.
Welche Beziehung hat die jüngere Generation zur 68er-Bewegung?
Ehrlich gesagt, kaum eine. Sie kennen sie, aber sie sehen sie als eine entfernte Historie an, ausgenommen in Mexiko-Stadt. In den neuen Generationen weiß man nicht, dass viele Freiheiten, die wir heute haben und die uns normal erscheinen, über die Opfer der 68er-Generation erlangt wurden. Viele Themen, die in den politischen Debatten auftauchen, verdanken sich den damaligen Kämpfen, beispielsweise Menschenrechte, Feminismus, die rekreative Verwendung von Drogen, die Kritik an der Hegemonie des Staates, der Armee bis hin zum Recht auf Abtreibung.
Bezüglich des Aufkommens der Neuen Rechten in Deutschland sagten Sie: »Faschismus kommt stets in wirtschaftlichen Krisenzeiten und kollektiven Ängsten auf. Es erscheinen Politiker, die einfache Lösungen für komplexe Probleme bieten.« Hat die Linke immer noch keine Sprache gefunden, die alle verstehen, was man ja schon den 68ern vorwarf, auch in Mexiko?
Die mexikanische 68er Bewegung war studentisch, sie konnte die mexikanischen Arbeiter kaum für sich gewinnen, denn die wurden von regierungsnahen Gewerkschaften dominiert. Zwischen 1968 und 1980 radikalisierten sich die Linken, sie wurden zu Guerilleros. Wegen der Anwendung von Gewalt verloren sie die Stimmen und Sympathien der Arbeiter- und Mittelklasse.
Jetzt kommt diese mit Andrés Manuel López Obrador an die Regierung, weil die Menschen die Korruption satt haben, ebenso die unverschämte Bereicherung der politischen Kaste. Die einzige Sprache, die in diesem Jahrhundert funktionieren wird, ist die der Ehrlichkeit, der Transparenz. In hoffnungslosen Zeiten aber, der akzeptierten Geldgier, ziehen viele soziale Sektoren kurzfristige Lösungen vor: magische Handlungen, bombastische Antworten.
So erklärt sich auch der Aufstieg der Ultrarechten. Sie versprechen dir, deine Interessen zu vertreten, wenn die Regierungen dich vergessen haben, wenn es offensichtlich ist, dass deine Probleme nicht auf der Liste ihrer Prioritäten stehen. Das ist aber nur Demagogie.
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