- Politik
- Referendum in Mazedonien
Volksentscheid der letzten Chance
Das Referendum über den Landesnamen entscheidet auch über Mazedoniens EU-Perspektiven
Unter dem hohen Bogen der altehrwürdigen Steinbrücke von Kratovo gurgelt leise ein Rinnsal. Unwirsch spuckt ein braun gebrannter Maurer seine ausgekauten Kürbiskernschalen auf das Kopfsteinpflaster. »Wer wechselt schon seinen Namen? Niemand! Das haben die da oben sich ausgedacht«, beschwert er sich mürrisch. Mazedonien werde »untergehen«. Kopfschüttelnd setzt er einen weiteren Stein auf seine Mauer. Nein, am bevorstehenden Referendum werde er nicht teilnehmen: »Wir sind Mazedonier - und sonst nichts!«
Wird Mazedonien zu Nordmazedonien? Vor dem Volksentscheid am 30. September hat die Weltpolitik selbst die verschlafene Provinzstadt an den Ausläufern des Osogowo-Gebirges im Nordosten Mazedoniens ereilt. Wie eine Verheißung prangen Europas gelbe Sterne auf den blauen Stellwänden vor der weißen Leinwand in dem bis auf den letzten Platz besetzten Kinosaal. »Dies ist die letzte Chance für Mazedonien«, sagt auf der Empore ein weißhaariger Rentner: »Und ob wir sie nutzen, hängt nur von uns selbst ab.«
Die Umbenennung soll den bereits seit 27 Jahren währenden Nachbarschaftsstreit mit Griechenland beenden - und dem krisengeplagten Vielvölkerstaat den bisher von Athen blockierten Weg in die EU und die NATO ebnen. Vor allem unter den Jüngeren sei »die große Mehrheit« für die Absegnung des Namensdeals, beteuert der dunkelhaarige Automechaniker Robert. Wenn das »die Rettung« sei, müsse man die Änderung des Namens eben in Kauf nehmen: »Wir wollen europäisches Recht, ein europäisches Leben - und europäische Löhne.«
»Komm heraus - für ein europäisches Mazedonien!«, fordern Werbeplakate zur Teilnahme an dem wichtigsten Urnengang der Staatsgeschichte auf. Geschickt hat die Regierung des sozialdemokratischen Premiers Zoran Zaev den Volksentscheid über den im Juni mit Athen vereinbarten Namensdeal zum Votum über die Westintegration des lange isolierten Balkanstaats umfunktioniert. »Unterstützen Sie die EU- und NATO-Mitgliedschaft mit der Annahme des Abkommens zwischen Mazedonien und Griechenland?« lautet die Frage, die die Opposition wütend als »manipulierend« kritisiert.
Das nervöse Klicken der Kameras kündigt den hohen Gast aus der Hauptstadt an. »Zoki, Zoki«, skandieren seine Anhänger begeistert. Von rhythmischem Klatschen begleitet, bahnt sich ihr Hoffnungsträger händeschüttelnd den Weg aufs Podium. Die Ärmel seines Hemds hochgekrempelt, schwört der Premier sein Publikum auf den »bestmöglichen Kompromiss« ein: »Es gibt keine Alternative. Schaut in die Augen eurer Kinder, sie verdienen eine Perspektive - und Zukunft: Stimmt für das europäische Mazedonien!«
90 Kilometer entfernt harrt Mite Andrevski schon seit sieben Monaten in seinem Protestzelt gegenüber dem Parlament in Skopje aus. Das »Finale des geistigen Genozids am mazedonischen Volk« stehe bevor, erklärt der hagere Ökonom verbittert. Sollte der Deal mit Athen abgesegnet werden, werde es für die Mazedonier »kein Mutterland mehr« geben. Eindringlich warnt der Patriot vor »Spannungen und Gewalt«, falls die Regierung mit Hilfe der albanischen Minderheit die Umbenennung durchpeitschen sollte: »Sie können legal nicht auf die benötigte Mindestwahlbeteiligung von 50 Prozent kommen. Wenn sie das Referendum manipulieren, werden sie die Region destabilisieren - und sich das eigene Grab schaufeln.«
Zwar hat der oppositionsnahe Staatschef Djordje Ivanovic angekündigt, dem Urnengang fern zu bleiben. Doch bis auf einige Protestbanner der angeblich auch von Moskau finanzierten »Ich boykottiere«-Bewegung sind die Gegner der Umbenennung in der Öffentlichkeit kaum präsent. Die nationalpopulistische VMRO-DMPNE wird seit ihrer Verbannung in die Opposition von heftigen Richtungskämpfen geschüttelt. Ob aus Unschlüssigkeit wegen des Drucks der Schwesterparteien im Westen oder aber der Hoffnung, noch einen Amnestie-Deal für ihre ins Visier der Justiz geratenen Ex-Würdenträger auszuhandeln: Auf eine Wahl- oder Boykottempfehlung hat die größte Oppositionspartei verzichtet. Stattdessen ruft sie ihre Anhänger dazu auf, nach eigenem Gutdünken abzustimmen - oder nicht.
Schwere Lüster und historische Gemälde über Mazedoniens Unabhängigkeitsstreit zieren die vollgestellten Fluchten der Parteizentrale. Nur wenige Stunden nachdem, VMRO-Chef Hristijan Mickovski versicherte, dass seine Partei bei einem Erfolg des Referendums die Entscheidung des Volkes anerkennen werde, verkündeten mehr als zwei Dutzend Parlamentarier der Partei in ähnlich lautenden Facebook-Erklärungen genau das Gegenteil. Er schwöre bei Gott und dem mazedonischen Vaterland, niemals für eine Verfassungsänderung zu stimmen, so die pathetische Botschaft des VMRO-Abgeordneten Johan Taculovski: »Falls doch, soll mich einer meiner mazedonischen Brüder töten.«
Das widersprüchliche Verhalten der Opposition sei ein Witz, sagt der Analyst Saso Ordanoski in Skopje. Zuerst habe die VMRO-Führung erwartet, dass der Regierung ohnehin keine Einigung mit Athen gelingen werde und sei davon »vollkommen überrumpelt« worden. Nun wolle sie mit ihrer »Verliererposition« jeder ihrer zerstrittenen Fraktionen gerecht werden, stellt aber doch niemand zufrieden. Unabhängig vom Ausgang des Referendums »arbeite« die Regierung bereits an dem Zustandekommen einer Zweidrittelmehrheit im Parlament mit Hilfe von VMRO-Dissidenten und sei »ziemlich nahe daran«: »Die Reformer sind in der VMRO eine Minderheit, aber keine kleine mehr.«
Offiziell sind 1,8 Millionen Mazedonier wahlberechtigt. Doch seit 2002 ist keine Volkszählung mehr durchgeführt worden: Die Bevölkerung des von Emigration und rückläufigen Geburtenraten geprägten Landes wird allenfalls noch auf 1,5 Millionen Einwohner geschätzt. Um auf eine Wahlbeteiligung von 50 Prozent zu kommen, müssten vermutlich 65 bis 70 Prozent der im Land lebenden Wahlberechtigten wählen gehen.
Zumindest kann Skopje auf die volle Unterstützung der EU und der USA bauen. Von Bundeskanzlerin Angela Merkel bis zum österreichischen Regierungschef Sebastian Kurz reicht die Riege hochrangiger Staatsgäste, die in den letzten Wochen in Skopje für das Referendum die Werbetrommel schlugen - und die gerupfte Opposition ins Gebet nahmen.
Der Westen erhofft sich vom NATO-Beitritt und der EU-Annäherung Mazedoniens eine Stabilisierung des labilen Vielvölkerstaats, das Ende des Dauerstreits mit Athen - und die Minderung des russischen Einflusses in der Region. Für viele Mazedonier sind es vor allem die katastrophale Wirtschaftslage und ihre missliche persönliche Situation, die sie auf eine bessere Zukunft durch eine entschlossenere Annäherung an den Westen hoffen lassen.
Zwar hat dem benachbarten Albanien der NATO-Beitritt 2009 keineswegs zu dem verheißenen Entwicklungsschub verholfen. Dennoch sind laut dem Verleger und Analysten Fejzi Hajradi sowohl die Oppositions- als auch Regierungsparteien der albanischen Minderheit geschlossen für den EU- und NATO-Beitritt: »Wer ertrinkt, greift zu jedem Strohhalm.« Die Beteiligung von 50 Prozent werde vielleicht verfehlt, aber dennoch sei er wegen des großen internationalen Drucks »optimistisch«, dass der Deal abgesegnet werde, sagt Hajdari. »Alles ist möglich«, zitiert er den Werbeslogan des lokalen Skopsko-Biers: »Eine große Mehrheit könnte der Regierung als Argument dienen, um mit westlichem Segen die Verfassungsänderung notfalls auch mit einfacher Parlamentsmehrheit zu beschließen.«
Still ragen die Kräne über den halbvollendeten Rohbauten am »Plostad Makadonija«. Das umstrittene Großprojekt »Skopje 2014« mit falschen antiken Fassaden und Monumenten hat die neue Regierung gestoppt. Doch was mit dessen Relikten passieren soll, ist genauso unsicher wie die Zukunft des Landes bei einem Scheitern des Namensdeals. »Schau, wie die unsere Stadt mit ihrem Kitsch verschandelt haben«, schimpft die Rentnerin Snezana auf die früheren VMRO-Machthaber. Ja, der neue Landesname sei nicht der schönste Kompromiss: »Aber was hilft uns ein Name, wenn wir nichts zu essen haben? Wir können nicht ewig auf der Stelle stehen. Wenn nicht jetzt die Einigung, wann dann?«
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