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Wenn der Arbeitsminister die Hartz-IV-Empfänger vergisst
Arbeitsminister Heil hat eine Qualifizierungsoffensive gestartet. Bislang zielt sie nur auf Berufstätige
Berlin. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat die Weiterbildung zu einem seiner Kernthemen gemacht. Und der Minister setzt dieses Vorhaben derzeit in Gesetze um. Gerade erst brachte das Bundeskabinett ein von Heil erarbeitetes Gesetz auf den Weg: das Chancenqualifizierungsgesetz.
»Langfristig will ich die Bundesagentur für Arbeit zu einer Agentur für Arbeit und Qualifizierung weiterentwickeln«, sagte der SPD-Politiker entsprechend vollmundig bei einer ersten Vorstellung des Vorhabens im Parlament. Laut dem Gesetz sollen Arbeitnehmer*innen künftig unabhängig von Ausbildung, Lebensalter und Betriebsgröße leichter als bisher in den Genuss von Qualifizierungsmaßnahmen kommen.
In einem Grundsatzpapier der Bundestagsfraktion von 2016 zum Thema Qualifizierung in Zeiten von Arbeit 4.0. wurde genau das bereits skizziert. Darin heißt es auch: »Mit einer ›Kultur neuer Chancen‹ möchten wir allen ermöglichen, unabhängig vom Alter Schulabschlüsse nachzuholen, eine Erstausbildung oder ein Erststudium zu absolvieren und digitale Grundkompetenzen zu erwerben.«
Doch das Chancenqualifizierungsgesetz hat einen großen blinden Fleck: Es ist vor allem ein Gesetz für Beschäftigte und deren berufliche Weiterbildung. Die Erwerbslosen werden kaum bedacht. »Wenn man sich anschaut, wer davon begünstigt wird, sind es die Beschäftigten und nicht die Erwerbslosen«, sagt der Weiterbildungsexperte Matthias Knuth vom Institut für Arbeit und Qualifizierung an der Universität Düsseldorf. »Die SPD macht damit Politik für die Kernbelegschaft. Das Stiefkind Hartz IV wurde anscheinend vergessen.«
Selbst das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft beklagt in seinem Magazin »iwd«, dass die Erwerbslosen bei den neuen Vorhaben Heils außer Acht gelassen wurden: Ein weiteres Problem sei, »dass mit dem Gesetzesentwurf arbeitslose und oft geringqualifizierte Hartz-IV-Empfänger nicht erreicht werden. Gemessen an den Ausgaben je Arbeitslosen ist die staatliche Förderung in diesem Bereich in den vergangenen Jahren zurückgegangen.«
Laut Statistik der Agentur für Arbeit haben fast zwei Drittel der derzeitigen erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger*innen keine Berufsausbildung. Fast ein Viertel hat nicht einmal einen Schulabschluss. Zudem sind Geringqualifizierte rund fünfmal häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen als Menschen mit abgeschlossener beruflicher Ausbildung. »Der alte Mythos, dass Weiterbildungen für Erwerbslose nichts bringen, stimmt nicht«, bilanziert Wissenschaftler Knuth. Diese weiterverbreitete Annahme hatte Anfang des Jahrhunderts zu einem erheblichen Abbau der Weiterbildungsprogramme für Arbeitslose geführt. Stattdessen gilt seither die Maxime, dass die möglichst schnelle Beschäftigungsaufnahme Priorität hat. »Die positiven Effekte der Weiterbildung haben sich erst nach einiger Zeit offenbart. Die Studien, die in den 90er Jahren zu ihrem schlechten Ruf beigetragen haben, haben das noch nicht berücksichtigt.« Wissenschaftlich gelte das mittlerweile als Konsens. »Nur in der Politik ist das bislang nicht angekommen.«
In einem Papier der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung aus 2017 heißt es: »Die in den verschiedenen Studien geschätzten Wirkungen von Weiterbildung bewegen sich in der Größenordnung einer um 20 Prozentpunkte erhöhten Beschäftigungswahrscheinlichkeit.« Damit sei der Effekt von Weiterbildung auf die Beschäftigungsfähigkeit höher als die der meisten anderen Maßnahmearten.
Arbeitsmarktexperte Knuth weist allerdings auch darauf hin, dass es unter den derzeitigen Hartz-IV-Empfänger*innen auch einen Teil gebe, der Probleme habe, an derzeit angebotenen Qualifizierungsprogrammen teilzunehmen: »Erwerbsfähig gilt schon, wer drei Stunden am Tag arbeiten kann.« Zudem seien viele der Erwerbslosen ohne Ausbildung auch von negativen Bildungs- und Versagenserfahrungen geprägt: »Klassenraumweiterbildungen funktionieren daher nur bedingt. Es wäre daher wichtig, die praktisch ausgerichtete Weiterbildung zu stärken.« Die Dauer der Ausbildung sollte nach Bedarf verlängert werden, um so den Bedürfnissen der Menschen entgegen zu kommen, die schon länger ohne Beschäftigung seien.
Das zentrale Hemmnis für die Weiterbildung sieht Knuth allerdings in der Einkommenslage der Hartz-IV-Empfänger*innen: »Wenn sie eine Ausbildung beginnen, heißt das auch, dass sie sich für längere Zeit auf den Hartz-IV-Standard festnageln. Viele Menschen setzen deswegen lieber darauf, dass sie bald einen Job finden.« Seine Lösung: Ein nicht kürzbarer Zuschuss zum Hartz-IV-Satz, ähnlich wie die Ein-Euro-Job-Entlohnung. »Wer eine Weiterbildung macht, läuft sich ja auch die Schuhe ab - nur ohne etwas dafür zu bekommen.« Arbeitslosengeld-I-Empfänger*innen, die sich für eine Weiterbildung entscheiden, sollten währenddessen ebenfalls eine höhere prozentuale Leistung aus der Arbeitslosenversicherung erhalten.
Auf »nd«-Anfrage erklärt das Arbeitsministerium, dass es sowohl eine längere Dauer der Ausbildung für Erwerbslose als auch Zuschüsse während der Ausbildung für Hartz-IV-Empfänger*innen ablehne. Ein Sprecher verweist auf die 2016 eingeführten Weiterbildungsprämien für erfolgreiche Zwischen- und Abschlussprüfungen. »Sie sollen das Durchhaltevermögen und die Motivation, eine längerfristige Qualifizierungsmaßnahme aufzunehmen und erfolgreich zu Ende zu bringen, steigern.« Bei Bedarf könnten auch der Erwerb von Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben, Mathematik oder IT-Kenntnisse vor oder begleitend zu einer berufsabschlussbezogenen Weiterbildung gefördert werden. Wissenschaftler Knuth sieht jene Prämien skeptisch: »Der Effekt dürfte vorhanden sein, aber gering ausfallen. Die Erhöhung des Entgelts würde eine deutlich größere Wirkung haben.«
Arbeitsminister Heil will nach dem nun vorgestellten Gesetz weiter an dem Thema Qualifizierung arbeiten. Im November wird das Arbeitsministerium mit den Ländern und Verbänden die Beratungen für eine Nationale Weiterbildungsstrategie anstoßen. Darin sollen die Weiterbildungsprogramme von Bund und Ländern gebündelt, arbeitsmarkt- und bildungspolitische Instrumente verzahnt und neue Finanzierungsoptionen geprüft werden.
Ob dabei viel für Erwerbslose herausspringt, bleibt jedoch abzuwarten. Denn im Strategiepapier der SPD-Bundestagsfraktion, aus dem die nun von Heil anvisierten Maßnahmen stammen, heißt es zwar: »Wer arbeitslos ist, soll durch Weiterbildungsmaßnahmen dauerhaft am Arbeitsmarkt Fuß fassen.« Nur einen Satz später liest man dort allerdings: »In erster Linie soll Weiterbildung jedoch berufsbegleitend stattfinden.«
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