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  • Petra Köpping über Ostdeutschland

Ein Haushaltstag für das Selbstbewusstsein

Die sächsische SPD-Politikerin Petra Köpping über Anerkennung für Ostdeutschland und Enttäuschung über Merkel

  • Hendrik Lasch, Halle
  • Lesedauer: 11 Min.

Lange wurde über die Stimmung in Ostdeutschland kaum noch geredet. Das ändert sich, seit hier auffällig gewählt wird. Muss man der AfD dankbar sein für die Wiederbelebung der Debatte?

Natürlich nicht. Ich glaube, das hat schon viel früher begonnen. Ich war viele Jahre Bürgermeisterin und Landrätin und habe diese Frustration schon viel früher gespürt. Die Menschen hatten schon lange das Gefühl: Ich kann mich anstrengen wie ich will, aber ich werde nicht gerecht entlohnt. Sie haben immer wieder gemerkt: Ihre Leistung wird nicht gewürdigt. Dass sich der Frust an einem Thema wie der Flüchtlingsfrage so aufschaukelt: Damit hat man, glaube ich, zunächst nicht gerechnet.

Petra Köpping

Die 60-jährige SPD-Politikerin Petra Köpping hat ein Amt inne, das eigentlich kaum zu bundesweiter Popularität prädestiniert: Sie ist seit 2014 Ministerin für Integration und Gleichstellung in der sächsischen CDU-SPD-Regierung. Seit sie vor zwei Jahren den Job auch als Arbeitsauftrag für die »Integration« ihrer sächsischen und ostdeutschen Landsleute in die bundesdeutsche Demokratie zu interpretieren begann, ist sie gefragter Talkshowgast und wird gern in westdeutsche Stadthallen eingeladen, um »den Osten« zu erklären. Über die nötige Expertise verfügt sie. Köpping, die Staats- und Rechtswissenschaft studierte und beim Rat des Kreises Grimma arbeitete, ging in den 90ern als Außendienstlerin zu einer Krankenkasse. Zugleich engagierte sich die Frau, die vor 1989 drei Jahre in der SED war, in der Politik: als Bürgermeisterin, ab 2001 als Landrätin. Seit 2002 ist sie SPD-Mitglied. Unlängst erschien ihr Buch »Integriert doch erst mal uns!« Darüber sprach mit ihr der nd-Korrespondent für Sachsen, Hendrik Lasch.

Foto: dpa/Monika Skolimowska

Sie sagen, die Sprengkraft des Themas sei Ihnen bewusst geworden im Gespräch mit »Wutbürgern«, die sagten: Ihr mit Euren Flüchtlingen - integriert doch erst einmal uns.

Richtig. Ich habe zuvor die Ungerechtigkeiten gesehen, aber noch nicht geahnt, dass es sich so zuspitzt; dass Menschen sagen: Ich bin jetzt gegen den Staat, gegen die Demokratie; gegen die Parteien. Ich dachte, es seien viele Einzelprobleme. Und bis Anfang der 2000er Jahre gab es ja auch viele Einzelprobleme zu lösen, auch in Kommunen. Da waren die Schule, der Kindergarten, die Straße, und als Politiker hat man sich gefreut, wenn etwas gelungen ist. Und man sieht ja, was in Städten und Dörfern in Sachsen geschaffen wurde. Darauf sind die Leute stolz. Aber es geht eben nicht nur um sanierte Marktplätze und neue Straßen.

Sie kommen aus der Gegend südlich von Leipzig, wo aus einem Kohlerevier eine Seenlandschaft wurde. Man hat viel Kraft in die Umgestaltung der Landschaft gesteckt. Wurde darüber vergessen, wie sich das auf die Betroffenen auswirkt?

Man hat zumindest die Dimension nicht erkannt. Man sah »blühende« Landschaften entstehen und merkte zu wenig, dass sie für viele Menschen die Ödnis der Arbeitslosigkeit bereithielten. Ich war als Bürgermeisterin bei der »feierlichen Sprengung« von Tagebaugeräten am Störmthaler See. Die Bergleute, die man eingeladen hatte, empfanden keine Freude, sondern hatten Tränen in den Augen. Wenn ich gemeinsam mit dem Pfarrer Jubilaren im Dorf gratulierte, hörten wir, was die Familien bewegte: Arbeitslosigkeit, wachsende Ungleichheit. Viele haben mit Rückzug reagiert. Aus Politik, sagten viele, halte ich mich raus. Das Gefühl von Gemeinschaft, das viele aus der DDR kannten - auch wenn es teils Notgemeinschaften waren -, ging verloren.

Eine Kernthese Ihres Buches ist, dass Menschen in Ostdeutschland vor allem Anerkennung für das vermissen, was sie geleistet haben. Von wem hätte sie kommen müssen?

Zum einen hätte es sie untereinander geben müssen; wenn der Nachbar unverschuldet arbeitslos wurde etwa. Aus Sachsen sind 750 000 Menschen wegen der Arbeit weggegangen. Man darf aber denen, die geblieben sind, nicht vorwerfen, den Absprung nicht geschafft zu haben. Auch wer in Sachsen auf dem Dorf geblieben ist, hat etwas geleistet: bei der Pflege von Angehörigen, als Chef im Kleingartenverein. Derlei müsste auch die Gesellschaft insgesamt stärker würdigen. Und dann geht es natürlich um Anerkennung zwischen Ost und West. Ich höre im Westen immer wieder: Man hat doch auch bei uns Betriebe geschlossen. Die Dimension, in der das im Osten geschah, wird aber völlig verkannt, ebenso wie der Umstand, dass sich doch auch das gesamte Leben und der Alltag quasi über Nacht geändert haben. Viele haben sich danach angestrengt im Wissen, dass sie selbst den Neustart vielleicht nicht mehr schaffen. Aber sie wollten, dass er ihren Kindern gelingt - eine Aussage, die übrigens auch oft von Flüchtlingen zu hören ist. Anerkennung dafür fehlt, und das macht den Menschen sehr zu schaffen - mehr, als sie vielleicht vor 25 Jahren gedacht haben.

Wie wäre ein Gefühl von Anerkennung zu vermitteln?

Zum Beispiel kann man darüber reden, dass der Osten etwas in die Bundesrepublik einbringt. Ich war amüsiert, als man mir vor einigen Jahren in der Schweiz erklärt hat, wie gute Kinderbetreuung funktioniert. Wir im Osten kennen das. Die verbreitete Berufstätigkeit von Frauen, die es jetzt auch in der Bundesrepublik gibt: Das war für uns selbstverständlich. Es gibt weitere Beispiele. Ich habe kürzlich noch einmal vorgeschlagen, über einen Haushaltstag nachzudenken. Vielleicht muss es ihn nicht zwölfmal im Jahr geben, sondern nur fünfmal; als eine Art »Behördentag«. So könnten Arbeitgeber Beschäftigte binden. Und dann muss man eben nicht in die USA weisen, wo so eine Regelung auch existiert, sondern kann daran erinnern, dass es so etwas in der DDR gab - und dass es sich um eine Idee handelt, die es wert ist, übernommen zu werden. Das wäre dem Selbstbewusstsein der Menschen im Osten sicher nicht abträglich.

Anerkennung ostdeutscher Lebensleistungen fordern sie nicht zuletzt von der Politik. Was erwarten Sie von Ihren Kollegen?

Man soll den Menschen zum einen Gelegenheit geben, ihre Geschichten zu erzählen. Dabei geht es gar nicht darum, Mitleid zu erzeugen, sondern zur Kenntnis zu nehmen: Das war hart; die Leute haben etwas geleistet. Zum zweiten muss es eine Art Wiedergutmachung geben. Es gibt nach wie vor Berufsgruppen, die bei der Rente benachteiligt wurden; da muss es einen Ausgleich geben. Und wir müssen stärker darauf achten, wie wir Führungspositionen besetzen.

Sie zitieren Statistiken, wonach in Verwaltung, Wirtschaft oder Medien im Osten nur 25 bis 35 Prozent der Spitzenposten von Ostdeutschen besetzt sind. Das verstehen viele nicht. Zugleich wird das Land seit 13 Jahren von einer ostdeutschen Kanzlerin geführt. Warum ist auch das kein Anlass für Stolz?

Meine Erklärung ist: Man hatte große Hoffnungen, als eine Frau aus dem Osten Bundeskanzlerin wurde. Es gab die Erwartung: Sie versteht uns und trägt unsere Probleme in die Bundespolitik; sie wird regeln, was ein Wessi nicht regeln kann, weil er es nicht weiß. Das ist nicht passiert, und das Ergebnis ist Enttäuschung.

Wie groß ist die Gefahr, dass Ihr Versprechen auf bessere Anerkennung ebenfalls in Enttäuschung mündet, weil Rentenunrecht nicht mehr zu korrigieren ist?

Viele Betroffene sehen selbst, dass es nicht möglich sein wird, alles zu reparieren. Vieles ist von Gerichten abschließend beschieden worden. Sie würden sich aber schon über ein Eingeständnis freuen, dass mit ihnen falsch umgegangen wurde - etwa in Form einer Einmalzahlung. Wie genau das gelingt, soll eine Härtefallkommission beim Bund entscheiden. Klar ist: Hundertprozentige Zufriedenheit wird es nicht geben. Dass etwas geschieht, hielte ich gleichwohl für sehr wichtig. Die Menschen, die es betrifft, erzählen das ja ihren Kindern und Enkeln weiter, und diese nehmen das Gefühl auf. Die Erwartung, dass sich Ungerechtigkeiten der Wende mit der Zeit auswachsen, war trügerisch. Der »Sachsen-Monitor« zeigt, dass sich auch viele 18- bis 27-Jährige heute (wieder) als Menschen 2. Klasse fühlen.

Eine Einmalzahlung für Opa oder Oma wird daran nichts ändern.

Womöglich nicht. Ihre Haltung würde sich aber vielleicht ändern, wenn Löhne und Gehälter nicht mehr hinter denen im Westen zurückblieben. Nun setzt Politik nicht die Lohnhöhe fest. Man muss aber auch nicht, wie Sachsen das jahrelang getan hat, mit Niedriglöhnen für den Standort werben. Das hat erst der Mindestlohn beendet. Auch Handwerker haben kein Verständnis dafür, dass sie viel weniger Geld erhalten, wenn sie Fliesen in Bautzen verlegen statt in München. Es ist kein Zufall, dass viele AfD-Wähler Selbstständige sind.

Sie halten es für notwendig, noch einmal über die Treuhand zu reden. Das klingt nach Gesprächstherapie. Vielen derer, die im Osten Protest artikulieren, scheint es aber längst nicht mehr um die Treuhand zu gehen, sondern um eine grundsätzliche Ablehnung von Demokratie, Politik, Medien in ihrer als westdeutsch empfundenen Ausprägung.

Ja, es stimmt: Die Problemlagen haben sich deutlich verschoben. Es wächst die Gruppe derer, die von Demokratie grundsätzlich enttäuscht sind, weil sie das Gefühl haben, um ihre Anliegen kümmert man sich nicht. Genau deshalb ist der therapeutische Ansatz wichtig: um zu erfahren, was die Leute wirklich beschäftigt. In Sachsen passiert das; da hat sich einiges verändert: Der Ministerpräsident und die Minister laden zum »Sachsen-Gespräch«; unser SPD-Landesvorsitzender Martin Dulig lädt seit Jahren an seinen Küchentisch ein. Viele Bürger nehmen das dankbar an. Sie sind an Politik interessiert. Sie registrieren hellhörig, dass die Politik Fehler einräumt, etwa bei den Stellenkürzungen in Schulen und bei der Polizei. Wie schnell sie uns wieder vertrauen; wie schnell sie glauben, dass sich wieder etwas ändern - das muss die Zeit zeigen. Ich gebe zu: Ich bin nicht übermäßig optimistisch. Wer viele Jahre lang Dinge kaputt macht, kann nicht erwarten, binnen kurzem Glaubwürdigkeit zurück zu gewinnen.

Reicht es, wenn Menschen Dampf ablassen können, oder müsste sich das politische System ändern?

Ich bin überzeugt, dass sich Vertrauen durch Gespräche und in der Folge durch verändertes Handeln zurückgewinnen lässt. Ich wüsste nicht, welches politische System besser wäre. Wir haben eine Diktatur erlebt; das will keiner zurück. Wir leben jetzt in einem System, in dem unterschiedliche Interessen ausgehandelt werden und von dem man akzeptieren muss, dass Beteiligte ihre Position in der Regel nicht zu 100 Prozent durchsetzen können.

Der Systemwechsel wird gefordert von der AfD, die in Umfragen im Osten insgesamt jetzt stärkste Partei ist. Warum ist hier eine Mobilisierung von rechts so erfolgreich?

Ein zentraler Auslöser ist, da hilft kein Drumherumreden, das Jahr 2015. Wir haben humanitäre Hilfe für Geflüchtete geleistet, aber auch das Gefühl vermittelt, dass Politik nicht mehr das Heft des Handelns in der Hand hat. Wir wussten nicht, wer im Land ist; keiner konnte sagen, wie viele Menschen kommen; wir hatten keine Programme dafür, was mit diesen geschieht. Ich wage nicht mir vorzustellen, was passiert wäre, wenn all das in einer Phase des wirtschaftlichen Abschwungs geschehen wäre. Angela Merkel hat nicht den Bundestag gefragt, was nicht unumgänglich, aber doch ratsam gewesen wäre; wir haben die Bevölkerung nicht vorbereiten können. Da ist Vertrauen verloren gegangen; das war ein Schlüsselerlebnis. Die Menschen im Osten haben darauf vielleicht sensibler reagiert, weil sie schon einmal einen Systemwechsel erlebt haben. Wer hätte denn im September 1989 gedacht, dass die DDR zwei Monate später zusammengebrochen ist? Das war ein rasanter Prozess. Daher vielleicht auch die Angst und die Sorge, dass das, was man sich erarbeitet hat, über Bord geht, und man wieder von vorn anfangen muss. Das kann man einmal, aber nicht zweimal. Und die, die es damals nicht geschafft und sich bis hierher nur mühsam durchgekämpft haben, fürchteten: Jetzt falle ich endgültig durch den Rost. So erkläre ich mir die Haltung: Jetzt gibt es für die da oben mal eine Klatsche; jetzt müssen die mal merken, dass es so nicht geht.

Manche scheinen auf mehr zu hoffen: auf die Ablösung eines Systems, dem sie nicht mehr vertrauen - mit dem Gefühl im Hinterkopf, das vor 29 Jahren schon einmal aus eigener Kraft bewirkt zu haben.

Der »Sachsen-Monitor« sagt anderes. Das Vertrauen in die Demokratie ist in Sachsen hoch, genauso hoch wie in allen anderen Bundesländern. Ich glaube nicht, dass die Mehrzahl derer, die AfD wählt, auf einen Systemwechsel hofft. Sie hoffen, uns - den etablierten Parteien - eines auswischen zu können. Mancher hofft vielleicht auch, dass die AfD es besser könnte - weshalb ich dringend zum Blick in Parteiprogramme rate. Meine Hoffnung ist, dass wir das Misstrauen wieder aufbrechen können. Wie schnell das in Ostdeutschland gehen kann - das weiß ich nicht.

Sie ärgert, dass über den Osten vor allem im Osten geredet wird. Wie groß ist bei ihren SPD-Genossen aus dem Westen im Bundestag der Jubel, wenn ihnen Petra Köpping wieder den Osten erklären will?

Zunächst einmal nehme ich erfreut zur Kenntnis, dass mich Mitglieder der Bundestagsfraktion auf einmal kennen. Meine Rede am Reformationstag 2016, in der ich das Thema Anerkennung der Lebensleistungen in Ostdeutschland erstmals angesprochen habe, und das Buch haben etwas bewirkt. Ich freue mich, einen Nerv getroffen zu haben. Es ist wichtig, für das Thema auch Interesse im Westen zu wecken, was ja zu gelingen scheint. Die Parteien müssen sich bewusst sein: 20 Prozent der Wählerschaft sitzt im Osten. Ohne den Osten verliert jede von ihnen.

Warum aber sollte man sich im Westen jenseits parteipolitischer Erwägungen damit befassen, was im Osten schief gelaufen ist und was das bei den Menschen bewirkt? Wir reden samt Berlin über knapp 16 Millionen - weniger als in Nordrhein-Westfalen wohnen.

Weil hier viel kaputt gehen kann. Ich fürchte, man ist sich dessen im Westen noch nicht in voller Tragweite bewusst. Mancher sagt: Lass die doch machen. Dann wird Sachsen eben schwarz-blau. Aber es geht nicht nur um die Frage, wer Sachsen regiert. Es geht um die Frage, ob die Demokratie in diesem Land weiter als Erfolgsmodell angesehen wird oder nicht. Und darum müssen wir gerade wirklich kämpfen.

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