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- Grüne und die Agenda 2010
Grüne wollen »Hartz IV überwinden«
Impulspapier fordert Abschaffung der Sanktionen und eine Auflösung der Bedarfsgemeinschaften
Das Grundsatzprogramm der Grünen stammt von 2002. Keine andere im Bundestag vertretene Partei hat derzeit ein derart altes Grundsatzpapier. Es stammt damit aus der Zeit der Regierungsverantwortung - und der Zeit, in der die Grünen zusammen mit der SPD Hartz IV einführten.
Nun erarbeitet die Ökopartei ein neues Grundsatzprogramm. Darin könnten die Grünen offen mit Hartz IV brechen. Zumindest in Teilen. Denn ein entsprechendes Impulspapier, das als Grundlage für das sozialpolitische Kapitel des Programms dienen soll, formuliert, dass Hartz IV »überwunden« werden müsse. Die »taz« hatte zuerst darüber berichtet.
In dem vom Fraktionsvorsitzenden Anton Hofreiter und dem sozialpolitischen Sprecher der Grünen, Sven Lehmann, formulierten Impulspapier heißt es: Das 2003 eingeführte Arbeitslosengeld II »schützt nicht vor Armut«. Es werde »dem Anspruch jedes Menschen auf Würde und Achtung nicht gerecht«. Hartz-IV-Berechtigte empfänden sich oft mehr als Bittsteller.
In politische Forderungen umgesetzt heißt das für Hofreiter und Lehmann: Hartz IV müsse durch ein »würdevolles Existenzminimum« ersetzt werden. In der konkreten Höhe eines »würdevollen« Satzes bleibt das Programm unklar - was der Tatsache geschuldet ist, dass ein Grundsatzprogramm einige Jahre überdauern muss. Allerdings heißt es, derzeit werde der Satz einer »würdevollen« Absicherung nicht gerecht, weil er künstlich niedrig gerechnet wird. Um das Existenzminimum zu garantieren, wollen die Grünen auch die Sanktionen komplett abschaffen. »Auf das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum gibt es einen Anspruch, der nicht gekürzt werden darf«, heißt es im Papier. Diesen Punkt hatten die Grünen bereits auf ihrem Parteitag beschlossen.
Doch die Grünen wollen nicht nur an den finanziellen Leistungen schrauben. Auch andere Rahmenbedingungen sollen geändert werden. Beispielsweise wolle man das Konzept »Bedarfsgemeinschaft« abschaffen und stattdessen jedem Anspruchsberechtigten individuell seinen Leistungsbeitrag auszahlen. Derzeit werden Kinder und Ehepartner mit in die »Bedarfsgemeinschaft« gezählt. Ihre Einkommen werden auf den Hartz-IV-Satz angerechnet. Das Arbeitslosengeld II soll weiterhin unbürokratischer beantragt werden können.
Die Grünen hatten die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum erheblich niedrigeren Hartz IV 2002 mit der SPD ermöglicht. Damals versahen sie das ganze mit dem euphemistischen Label der »Teilhabegerechtigkeit«. Nachdem die Ökopartei das Thema einige Jahre grundsätzlich verteidigt hatte - zu den Befürwortern zählten unter anderem die Ex-Parteichefin Katrin Göring-Eckhard - änderte sich der Kurs in den vergangenen Jahren langsam. Seit dem Wechsel an der Parteispitze versucht Grünen-Chef Robert Habeck immer wieder soziale Akzente zu setzen. Es dürfte zudem den Anspruch der Grünen untermauern, sich als Volkspartei aufzustellen. Noch bei den Jamaika-Koalitionsverhandlungen Ende 2017 hatte Hartz IV für die Grünen jedoch keine Rolle gespielt.
Bei den Sozialdemokraten schaut man derweil wohl in Teilen dennoch neidisch auf dieses Papier: Filippos Kourtoglou, ehemaliger Juso-Bundesvizevorsitzender und Vorstandsmitglied am Institut Solidarische Moderne, twitterte: »Und das wäre auch unser Job... aber unsere Partei wird immer irrelevanter.« Kourtoglou erklärte gegenüber »nd«: »Es ist ärgerlich, dass die Grünen uns damit nun vor den Landtagswahlen in Bayern und Hessen und der Europawahl sozialpolitisch überholen.« Impulse des linken SPD-Flügels, etwa von Hilde Mattheis vom Forum Demokratische Linke 21 oder dem Juso-Chef Kevin Kühnert zur Reform der Agendapolitik waren weitestgehend ungehört verhallt.
Der Hartz-IV-Experte Christoph Butterwegge lobte gegenüber »nd« die Ansätze des Grünen-Papiers: »Ich sehe darin viel Richtiges.« Es sei an der Zeit niederzuschreiben, dass sich mittlerweile die Verhältnisse der Einführungsphase verändert haben. Allerdings merkt er an, dass Hartz IV, entgegen den Behauptungen im Papier, nicht ganz abgeschafft würde: Langzeitarbeitslose hätten vor Hartz IV einen prozentualen Anteil ihres alten Gehalts erhalten, ein Ingenieur also beispielsweise auch nach einigen Jahren noch 1800 Euro. »Heute bekommt er nur Hartz IV, derzeit 416 Euro plus Miet- und Heizkosten.« Auch lässt das Papier seiner Meinung nach etwas Selbstkritik vermissen. Von der eigenen Verantwortung für Hartz IV sei wenig die Rede.
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