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Still zu bleiben, ist keine Option
Menschenrechtsanwältin Diana Morales über patriarchale Strukturen und staatliche Gewalt in Mexiko
Sie arbeiten als Anwältin und vertreten Opfer bei Fällen sexueller Folter. Was genau bedeutet Folter?
Zunächst muss man verstehen, dass Folter im Grunde nicht gegen eine Person gerichtet ist, sondern gegen eine Gemeinschaft. Das ist ganz besonders deutlich im Fall von Aktivist*innen zu erkennen, die ganz vorne in der ersten Reihe Menschenrechte verteidigen. Und es ist der Staat, der versucht, sie zu untergraben. Das bedeutet, in jedem Fall von Folter ist das eigentliche Ziel, dass alle anderen wahrnehmen, was mit Menschen passieren kann, wenn sie sich wehren. Daher ist Folter eine Methode, um die Bevölkerung zu kontrollieren.
Sexuelle Folter richtet sich in den meisten Fällen gegen Frauen. Aber auch Homosexuelle, Transpersonen und Männer sind häufig betroffen. Ab wann ist Folter sexualisiert?
Sexuelle Folter in Mexiko kann nicht ohne den Machismus begriffen werden. »Du solltest zu Hause bleiben. Du solltest auf deine Kinder aufpassen. Du darfst nicht wie eine Schlampe rumlaufen!«, ist die eigentliche Aussage. Insbesondere Aktivist*innen und Frauen, die Verantwortliche für Verbrechen anklagen, stellen sich gegen diese machistische Kultur.
Der weibliche Körper wird als das Intimste, als etwas Wertvolles wahrgenommen. Deswegen wird über diesen Körper ein Kampf ausgetragen, bei dem das Patriarchat, der Machismus in der Gestalt des Staates, dich besiegen und dekonstruieren will. Ein Angriff auf diesen Körper zielt auf die Zerstörung dieser Intimität ab.
Was genau meinen Sie damit?
Wir befinden uns in einem Krieg. Unsere Körper sind Feinde des Systems. Unsere Körper sind aufgeladen mit Symbolen. Da Frauen in der Machokultur immer auch mit ihrer Sexualität wahrgenommen werden, richtet sich sexuelle Folter zunächst gegen ihre Körper. Aber auch gegen ihr Sein, gegen ihr Innerstes.
Es ist ein sehr traditionelles und heteronormatives Verständnis von Frausein. Dennoch ist dieses Bild in Mexiko weitverbreitet. In der mexikanischen Kultur repräsentiert die Mutter sehr viel. Und insbesondere für staatliche Akteure ist das die Wahrnehmung von Weiblichkeit.
Gibt es Gemeinsamkeiten oder etwas, das die Opfer verbindet?
Am meisten betrifft es junge, in prekärer Lage lebende Arbeiterinnen, alleinstehende Frauen oder protestierende, aktive Frauen. Im Grunde betrifft es Frauen, die nicht dem traditionellen Frauenbild entsprechen. Heute verabschieden sich viele Frauen von traditionellen Rollenbildern und erreichen auch ökonomische Unabhängigkeit. Diese Form der Ermächtigung ist eine Beleidigung für die Machokultur. In letzter Zeit häufen sich die Fälle von tätowierten Frauen, Frauen, die einen bestimmten Kleidungsstil haben oder auf Partys gehen. Am Ende geht es darum, der Bevölkerung eins zu vermitteln: Macht nicht so einen Scheiß und haltet euch an die Regeln! Es ist eine Art, den Frauen zu diktieren, wie sie zu sein haben. Eine Erinnerung an die sexistischen Normen.
Das bedeutet, dass Widerstand zur Lebensgefahr wird?
Was überhaupt keine Option ist, ist stillzubleiben. Dennoch existieren Situationen und Kontexte, die ein Aufbegehren insbesondere für Frauen unheimlich schwierig machen. Frauen, die ihre verschwundenen Kinder suchen, werden bedroht. Es gibt sogar Fälle gefolterter oder gar ermordeter Mütter, weil sie den Drohungen standhielten und die Suche nach ihren verschwundenen Söhnen und Töchtern fortsetzten. Das sind Formen, um die Wahrheit und die Gerechtigkeit zum Schweigen zu bringen.
Welche Rolle spielt der Staat?
Niemand an der Spitze der Macht wird angefasst. Wer zentrale Regionen kontrolliert oder wichtige Ämter bekleidet, hat nichts zu befürchten. Polizei und Militär werden zwar dazu gedrängt, Resultate und Untersuchungsergebnisse zu liefern. Je nach Position und Stellung, also je nach Einfluss und Macht einer Person, werden die eigentlichen Verantwortlichen aber nicht zur Rechenschaft gezogen. In Mexiko bleiben 99 Prozent aller Gewaltverbrechen unbestraft.
Hier spielt die organisierte Kriminalität der Regierung in die Hände. Den Frauen wird unterstellt, in Machenschaften des organisierten Verbrechens involviert zu sein. Daher hätten sie verdient, was ihnen zugefügt wird. Wo ist aber hier der Rechtsstaat? Grundsätzlich gilt, dass niemand einfach verurteilt werden kann. Wenn diese Vorwürfe wahr sind, wieso wurde die Frau nicht festgenommen und zu der Sache befragt, sondern ermordet? Dieser Diskurs trägt zu einer Normalisierung der Gewalt gegen Frauen bei. Das macht es unheimlich schwer, die Situation anzuklagen, angesichts der realen Gewalt, mit der wir zu rechnen haben. Aber was bleibt uns denn anderes übrig? Was kann uns denn noch Schlimmeres passieren?
Das ist mutig! Was müsste sich denn konkret ändern?
Ich glaube, wir haben viele Gesetze, die eigentlich nur angewendet werden müssen. Wir müssen die Straflosigkeit überwinden. Das kann kulturell sein, aber auch politisch über Solidarität Räume erschließen. Das hat allerdings nichts mit Vergebung zu tun! Nicht weil man nicht vergeben sollte, sondern weil es kein Vergessen geben darf! Du darfst nicht vergessen, was passiert ist, um Gerechtigkeit einzufordern.
Es müssen unabhängige Untersuchungen stattfinden. Wahrheitskommissionen, an denen die Opfer teilnehmen, sowie internationale Institutionen, die mexikanische Regierung, Staatsanwaltschaft und natürlich die Zivilgesellschaft.
Was glauben Sie, müsste jenseits institutioneller Veränderungen passieren?
Opfer sexueller Folter müssen gefragt werden, was sie möchten. Was wäre für jede Einzelne hilfreich, um ihre Erfahrung zu verarbeiten? Wie können Räume geschaffen werden, in denen sich die Frauen artikulieren können? Und zwar so, dass sie auch gehört werden. Sei es künstlerisch oder wie auch immer. Gute Therapien. Und ganz wichtig: Wie kann die Zivilgesellschaft einbezogen werden? Was muss auf Bildungsebene, kulturell passieren, damit diese Dinge nicht weiter passieren. Öffentliche Gedenkstätten wären ein Beispiel.
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