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Götterblick nach drei Seiten
Zum 90. Geburtstag von Gerhard Wolf: Blütenschau - »Im deutschen Dichtergarten«
Es gibt sie, die beste aller Welten? Wohl kaum. Gedacht werden darf an Candide. Ein Verbannter - aus dem Gefilde, wo die große Illusion blüht. Er gerät in Voltaires berühmtem Roman in Situationen, die ihm den verordneten Optimismus vergällen. Am Ende kann er nicht mehr wirklich an das weltumspannend Gute und Schöne glauben. Möglich ist nur dies: »Wir müssen unseren Garten pflegen.« Der Garten ist Konzentration - und Begrenzung. In der Natur tobt die Kraft des Stärkeren, im gepflegten Garten dagegen wird diese harte Wahrheit so getopft, als sei das Recht des Stärkeren einzig das Recht - des Schönen.
Dem Garten merkst du, wie der Kunst, die Not an, aus der heraus jedes Regelwerk entsteht. Der Gärtner ist immer der Mörder, des Urwüchsigen nämlich, aber der Gärtner ist auch Gründer. Am Widerspruch zwischen Utopie und Nichtigkeit kann der Einzelne zugrunde gehen - wenn er sich denn nicht in die Fantasie rettet. Gartens Pflege ist solch eine Energiezufuhr. Er ist das Projekt eines möglichen Friedens zwischen Kolumbus und Waldgänger. Zu diesem Frieden gehört das große Wort Freiheit und das kleine Messer Beschneidung. Also Gebung durch Form. Die Parzelle ist Paradies - und Zelle. Wie Wille und Wirklichkeit. Wie die Kunst und das Leben.
»Im deutschen Dichtergarten« heißt der Sammelband, der Texte von Gerhard Wolf aus fünf Jahrzehnten vereint. Essays zur Lyrik »zwischen Mutter Natur und Vater Staat«, eingeleitet von Friedrich Dieckmann - der natürlich sogleich über den Gartenzaun des Mecklenburger Sommersitzes lugt: »Ich habe Gerhard Wolf niemals mit Strohhut, Gießkanne und Rosenschere walten sehen und weiß gar nicht, ob er das jemals tut.« Der Buchtitel nimmt Fühlung auf zu einem Erbe: »Märkischer Dichtergarten« hieß jene Buchreihe von Wolf und Günter de Bruyn, die in den 80erJahren berlin-brandenburgische Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts präsentierte. Eine Erfolgsgeschichte. Die Rückverbundenheit als Begreifenshilfe: Wir denken und fühlen stets in den Beständen bereits bestandenen Lebens; man existiert in Passagen, die man nicht überblickt.
Im jetzigen Band: Überblicke und Porträts - Erich Arendt und Stephan Hermlin, Günter Kunert und Karl Mickel, Elke Erb und Adolf Endler, Heinz Czechowski und Sarah Kirsch. Großartige Tiefenblicke, mit viel Verständnis für Generationenkonflikte und Sinnfindungskämpfe. Dieckmann verweist auf die Kurzschlüssigkeit des polemisch verschlissenen Begriffs der »DDR-Literatur« - wahre dichterische Arbeit überstieg stets »die Grenzen staatlicher Verhältnisse, um ihren Teil zu einem großen Ganzen beizusteuern, das die deutsche Literatur als Bestandteil der europäischen« bildete.
In ihrer Erzählung »Was bleibt« hat Christa Wolf, die im Jahre 2011 starb, genau das benannt, was jedem Menschen am Ende bewusst werden möge: »Dass es kein Unglück gibt, außer dem, nicht zu leben. Und keine Verzweiflung außer der, nicht gelebt zu haben.« Schönstes Geschenk und schwierigste Arbeit zugleich: Nähe zu einem anderen Menschen. Gerhard, Ehemann der Schriftstellerin, war von beiden Wolfs der verzweiflungsresistentere und distanzierungsfähigere Geist. Auch er gehörte 1976 zu den Erstunterzeichnern des Protestes gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann. Er wurde aus der Partei geworfen (zur sozialistischen Idee war er über Anna Seghers und Andersen-Nexö gekommen, »nie übers Marxistische«) - die Wolfs aber sind trotzdem in jenem Land geblieben, dem mehr und mehr die Seelen ausgingen, obwohl (weil!) man sie eingemauert hatte.
Gemeinsam mit seiner Frau stand Gerhard Wolf für eine ehrvolle, schmerzbewusste, aber dennoch nicht unglückliche Existenz in Zerreißproben - zwischen Loyalität und Abkehr, Bejahung und Kritik, Zorn und Nachsicht, Angriff und Verteidigung, Ernüchterung und Melancholie. Was sie für die DDR »rettete«: dass der Westen wahrlich keine Alternative und es unmöglich war, das bleierne Land im einzig denkbaren Zustand zu verlassen - nämlich ganz in Familie. Also: innere Emigration. Immerhin in Nähe zu den geliebten Leserschaften. Das war irgendwann die würdigste Form des Daseins, wenn man Charakter bewahren wollte.
Wolf hat neben seiner Herausgeberschaft betörende Bücher geschrieben, poetisch, verdichtet, in meisterlichem Rhythmus: etwa das Porträt über Johannes Bobrowski (»Beschreibung eines Zimmers«). Oder das Sammelwerk »Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht - Projektionsraum Romantik«, Texte von Christa und Gerhard Wolf; man darf sagen: Ein Text darin berührender als der andere. Kleist und die Günderode, die Arnims und Heine - Essay und Erzählung in faszinierender Paarung.
Bei Günter Gaus saß Wolf vor Jahren im Fernsehstudio. Der Sohn eines Buchhalters und einer Schneiderin, 1928 in Bad Frankenhausen geboren, gab Auskunft »Zur Person«. Kein Hauch Ost-Larmoyanz, kein Quäntchen West-Schelte. Der da antwortete, offenbarte sich somit als Gegenteil eines tumben Menschen, denn nur der Tumbe besteht auf klarem Kurs, auf Eindeutigkeit, auf vereinfachende Frontenziehung. Schön: dieses Nichtrechthabenwollen, dieses Verlangen nach Erlösung - aber gelebt als ein Begehren, das sich nicht erfüllen darf, soll es sich denn erfüllen. Was könnte den Doppelblick der Welt besser ausdrücken als der römische Gott Janus - Wolf hat seinen Verlag für Lyrik und Kunst, 1990 gegründet, »Janus press« genannt, und sein Gott schaut sogar in drei Richtungen: zurück ins Überlieferte, voraus ins Moderne und: ins gegenwärtige Gesicht des Lesers.
Schon als Redakteur des Deutschlandsenders der frühen DDR-Jahre war Wolf sich der Poesie sicher. Wie es der Dichter Louis Fürnberg schrieb, den er verehrte - und der weit, weit mehr war als nur der Autor jener Lied gewordenen Unerträglichkeit, einzig die Partei habe recht. Wolf stritt auch für die Verbreitung von Rilke; sein Chefredakteur damals verbot das, freilich nicht ohne darauf zu verweisen, dass er selber dessen Gedichte zu Hause auch lese. Ein noch höherer Funktionär züchtigend zu Wolf: Diese Doppelgesichtigkeit sei überhaupt nicht schlimm, denn der Genosse lese Rilke, um sich weiterzubilden, Wolf aber lese leider wegen des reinen Genusses. Das fiese Unterscheidungsvermögen, Parteilichkeit genannt. Selbst Janus hätte sich geschämt.
»Haltet zusammen!«, rief Wolf einst den jungen Lyrikern Volker Braun, Heinz Czechowski, Karl Mickel, Sarah und Rainer Kirsch zu; als Lektor hatte er bereits Gedichte von Peter Huchel, Stephan Hermlin und Erich Arendt zu Büchern werden lassen; und die nächste Generation derer, denen er zu Öffentlichkeit verhalf, hießen Bert Papenfuß, Sascha Anderson, Stefan Döring, Gabriele Kachold, Andreas Koziol, Jan Faktor. Zumeist Prenzlauer Berg: keine Gegend, sondern eine Haltung. Dort beheimatet: eine literarische Autonomie, ein Gehege der Treue, der Widerstandskraft. Volker Braun: »Hier artikulierte sich eine Jugend, für die es um nichts mehr ging, die Zukunft ist gegessen und die Gegenwart tote Geschichte.«
Gerhard Wolf hat gestützt, gefördert, gedruckt. Manchmal war er - Dieckmann bleibt im Bild - »der Gärtner im Werdungsgetümmel, der sich in den Hirtenhund verwandelte« und die Herde zusammenhielt. Noch einmal Volker Braun: »ein Genius der Gemeinsamkeit«. Ein Kraftquell für Versuche in Durchhaltefähigkeit, gegen Schnüffeleien und Verbote, gegen »kulturpolitische Banausie« (Friedrich Dieckmann). Durchhaltefähigkeit ist beim Gärtner die Gabe, im Ordnungswillen doch Lust am Wildwuchs zu bewahren. Denken, Dichten ist Wildwuchs. Ist das schöne Unkraut, gegen das kein Kraut gewachsen ist. Ist die Sehnsucht mitten im Maßvollen! Weil alles wild Wachsende jeglichem Leben ein bedenkenswertes Beispiel gibt: Niemand verlangt nach ihm, aber es wächst. Keiner schenkt ihm zusätzlichen Regen, aber es grünt. Wer Wildwuchs fürchtet, fürchtet seine Fruchtbarkeit. Das war nie die Furcht des Gerhard Wolf. Heute wird er 90 Jahre alt.
Gerhard Wolf: Im deutschen Dichtergarten. Lyrik zwischen Mutter Natur und Vater Staat. Mit einem Essay von Friedrich Dieckmann. Radius Verlag, 444 S., geb., 24 €.
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