Mönche, die auf Tigern reiten

Martin Leidenfrost besuchte Kalmückien, die einzige buddhistische Region in Europa

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 3 Min.

Ich fahre in die einzige mehrheitlich buddhistische Region Europas. Eine fast baumlose Steppe, viel Weidevieh ohne Hirten, alle 50 Kilometer ein Dorf. In dieser schutzlosen Weite konnte man die Kalmücken leicht einfangen. Die russische Teilrepublik Kalmückien, größer als Bayern, 300.000 Einwohner, hat die Deportation, die Stalin wegen der Kollaboration kalmückischer Regimenter mit der Wehrmacht verfügt hatte, immer noch nicht überwunden. Weder die Bevölkerungszahl von damals noch die Pracht der Pagoden ist wiederhergestellt.

Erste Lektion: Ästhetik. Nach drei Stunden Ebene ein offener Kessel, darin die einzige Großstadt Elista. Unter blauem Himmel flanieren elegante, nachdenklich dreinblickende Asiaten. Eine »besoffene Straße« mit dem besten Nachtleben Südrusslands, der höfisch gezierte, federnd rhythmische Tanzschritt einer blondierten Kalmückin.

Zweite Lektion: Herrschaft. Iljumschinow, lange Weltschach-Präsident, betrieb hier eine Diktatur, 1998 wurde die Chefredakteurin des Oppositionsblattes »Sowjetisches Kalmückien« ermordet. Ich treffe ihren Nachfolger Valeri Badmajew. Umbenannt in »Modernes Kalmückien«, erscheint die Gratiszeitung nur noch sieben bis neun Mal jährlich. Seine Kinder haben seinetwegen keine Chance auf Karriere und leben weit weg, in Moskau, England, den USA. Er sagt, Kalmückiens jetziger Präsident Orlow sei »weicher«, schon allein weil er nach Besäufnissen für eine Woche ausfalle, »die Leute lachen über ihn«. Orlow wurde soeben wiedergewählt, wobei Badmajew den Fälschungsanteil auf 20 Prozent schätzt. Kalmückiens Regierung beantwortet meine Anfragen nicht.

Dritte Lektion: Identität. Die Kalmücken sind westmongolische Oiraten, die sich ins Zarenreich integrierten. Ich sehe ein Gastspiel aus Tuwa, von der fernen mongolischen Grenze. In dem seit 18 Jahren tourenden »Essay-Drama« sinnieren melancholische Mongolen über den Krieg. »Frieden gibt es erst, wenn alle Völker unter demselben Khan leben«, sagt ein Schamane. Dschinghis Khan sagt: »Ein gutes Pferd verendet unterwegs, ein guter Mann stirbt auf seinem Pferd.«

Vierte Lektion: Buddhismus. Das reinkarnierte Oberhaupt ist der »Tschadschin Lama«, in den USA aufgewachsen. Regelmäßig flieht er vor den Steppenintrigen nach Colorado. Ohne Akkreditierung beim besoffenen Präsidenten kein Gespräch mit dem Lama. Vor Europas größtem buddhistischen Tempel Tausende Fähnchen am Zaun. 17 »große Lehrer« als Goldstatuen. Schuhe ausziehen, dem neun Meter hohen Buddha nicht den Rücken zudrehen. Ich trete ein. Wandmalereien mädchenhafter Mönche, die manchmal ungerührt Tiger reiten. 13 gemalte Dalai Lamas umgeben den amtierenden 14., dessen Gesicht fotografisch. Eine junge Frau wirft sich drei Mal bäuchlings vor dem Buddha hin. Die meisten Kalmücken, die ich befrage, beherrschen das Mantra nicht. Sie praktizieren die Religion wie die meisten Orthodoxen - durch Anzünden von Kerzen an hohen Feiertagen.

Fünfte Lektion: Perspektive. Die Kalmücken machen Werbung: Souvenirshops, »Mittagstisch des Nomaden«, Milchtee »Dschomba«. Unterwegs höre ich nur Russisch, die Jungen sprechen Kalmückisch schlecht. Viele Kalmücken empfinden den islamischen Kaukusus als Bedrohung und sehen das slawisch-christliche Russland als Verbündeten.

Etliche Kalmücken lehnen den Tschadschin Lama ab, er sei ein »amerikanischer Hurenbock«, und hängen einer »von den tibetischen Mönchen unterdrückten Prophetin« an. Ein Alter zählt ihre Prophezeiungen auf, vor allem: »Zum Ende des 22. Jahrhunderts gibt es nur noch eine Religion.« - »Ach ja? Welche?« - »Die von Dschinghis Khan, der Glaube an den blauen Himmel.«

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