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Jetzt fehlt die zündende Idee
Anhänger von »Aufstehen« suchen nach programmatischen Grundlagen / Gegner in der Linkspartei machen mobil
Vor rund zehn Wochen, am 4. September, präsentierte die Sammlungsbewegung »Aufstehen« in der Bundespressekonferenz in Berlin ihren Gründungsaufruf und stellte die Liste der Erstunterzeichner vor. Das Interesse war groß, die Zahl der registrierten Unterstützer wuchs binnen weniger Wochen auf über 160.000. In rund 100 Städten, Landkreisen, Gemeinden und Ortsteilen in allen Bundesländern haben sich seitdem Ortsgruppen gegründet oder zumindest erste öffentliche »Kennenlerntreffen« stattgefunden. Diese wurden teilweise von über 100 Menschen besucht, die meisten davon parteilos.
Trotz dieser auf den ersten Blick recht erfolgreichen Bilanz der ersten Wochen wurden auch die Schwachstellen der neuen Bewegung deutlich. Zwar haben sich »Aufstehen«-Gruppen an diversen Aktionen beteiligt, unter anderem gegen die geplante Rodung des Hambacher Forstes für den Braunkohletagebau, doch eigene Akzente konnten dabei nicht gesetzt werden. Öffentliche Präsenz zeigten örtliche Gruppen ferner im Rahmen der bundesweiten Kampagne »Würde statt Waffen« Anfang November, allerdings mit eher bescheidener Resonanz. Eine eher widersprüchliche Haltung nahm die Bewegung zu der großen »Unteilbar«-Demonstration am 14. Oktober in Berlin ein, an der über 200.000 Menschen teilnahmen. Während Mitbegründerin Sahra Wagenknecht, Fraktionschefin der LINKEN im Bundestag, im Vorfeld der Veranstaltung auf Distanz zu den Organisatoren und Teilen der inhaltlichen Ausrichtung der Veranstaltung ging, beteiligten sich viele Basisaktivisten deutlich sichtbar mit eigenen Transparenten.
Eine - relativ spärlich besuchte - Kundgebung am Freitag vor dem Brandenburger Tor, an der die geballte »Aufstehen«-Prominenz teilnahm, diente wohl in erster Linie der Selbstvergewisserung und Identitätsstiftung der eigenen Basis. Ein Alleinstellungsmerkmal, das den Aufbau einer solchen Bewegung auch in der breiten Öffentlichkeit erkennbar machen würde, ist derzeit nicht zu erkennen. Denn Bekenntnisse für Abrüstung und Frieden, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Demokratie und »gegen Rechts« findet man auch bei bestehenden Parteien, Verbänden und gesellschaftlichen Initiativen.
Dem angestrebten Ziel, mit klaren Aussagen für eine neue, sozialstaatsorientierte Politik auf Basis und Anhängerschaft der existierenden Parteien des »linken Lagers« einzuwirken, ist man kaum näher gekommen. Weder bei der SPD noch bei den Grünen scheint man »Aufstehen« sonderlich ernst zu nehmen. Vielmehr versuchen die Sozialdemokraten angesichts erneuter verheerender Wahlschlappen in Bayern und Hessen aus sich heraus ein soziales Profil zu entwickeln und diskutieren derzeit unter anderem über eine Abschaffung von Hartz IV, ohne allerdings die offensichtlich desaströse Rolle als Juniorpartner von CDU/CSU in der Bundesregierung in Frage zu stellen. Und Ludger Volmer, früherer Bundesvorsitzender der Grünen, räumte am Rande der Kundgebung gegenüber »nd« ein, dass er bei den Grünen derzeit keine Bereitschaft sehe, soziale Fragen in den Mittelpunkt zu stellen, und man sich dort vielmehr »für das liberal-konservative Bürgertum öffnet«. Aber dadurch werde im linken Spektrum der Gesellschaft »sehr viel Platz frei«, den »Aufstehen« besetzen könne.
Verschärft haben sich allerdings die Auseinandersetzungen innerhalb der LINKEN. Nachdem der Abgeordnete Thomas Nord in der letzten Woche seinen möglichen Austritt aus der Bundestagsfraktion ankündigte, falls sich Wagenknecht weiterhin außerhalb der »Parteilinie« bewege und Beschlüsse missachte, nahm die Diskussion über eine mögliche Abwahl der Fraktionsvorsitzenden mächtig Fahrt auf. Die Frage scheint derzeit zu sein, ob ihre Gegner das Risiko einer dann drohenden irreparablen Spaltung der Partei tatsächlich in Kauf nehmen wollen. Wagenknecht selber reagierte am Freitag gegenüber »nd« gelassen auf Bestrebungen für ihre Abwahl: »Es wabern Gerüchte, aber Gerüchte kommentiere ich nicht.« Diese Haltung mag von einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA gestützt sein, laut der sich 80 Prozent der LINKEN-Anhänger von Wagenknecht gut vertreten fühlen, von der Parteivorsitzenden Katja Kipping aber nur 40 Prozent.
Doch auch an der »Aufstehen«-Basis gärt es. Kritisiert wird die fehlende Programmatik, da der bisher als Grundlage dienende Gründungsaufruf in einigen zentralen Fragen lediglich Formelkompromisse enthält und zentrale Konfliktlinien zum Beispiel in der Migrationspolitik weitgehend ausspart. Doch auch intransparente Strukturen stoßen auf Unmut. Leitungsgremien, bei »Aufstehen« meistens als »Orga-Teams« oder »Arbeitsausschüsse« bezeichnet, arbeiten derzeit auf rein informeller Basis und haben keinerlei demokratische Legitimation.
Um Abhilfe zu schaffen, plant die »Aufstehen«-Führung jetzt einen Bundeskongress. Laut Simone Lange, SPD-Oberbürgermeisterin in Flensburg und »Aufstehen«-Unterstützerin der ersten Stunde, soll es dort um den Aufbau »legitimierter Strukturen« und eine Präzisierung der programmatischen Ausrichtung gehen. Über Ort und Termin gibt es bislang aber keine Aussagen.
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