- Politik
- Brexit
EU-Gipfel der gemischten Gefühle
Das Austrittsabkommen zwischen Brüssel und London ist unter Dach und Fach, doch die Freude hält sich in Grenzen
Es war ein Gipfel der gemischten Gefühle und der demonstrativen Einheit. Sorgfältig abgesprochen drückten die Chefs der verbleibenden 27 Mitgliedstaaten zunächst ihre Betrübnis über das Ausscheiden Großbritanniens aus. Damit einher ging die ebenfalls eindeutige Botschaft an London: Dieser Deal ist der einzig mögliche. Es wird keine Nachverhandlungen geben. Ein ungeordneter Brexit bleibt somit eine reale Option, denn das britische Parlament könnte das Abkommen ablehnen.
Sie empfinde »Trauer« angesichts des Ausscheidens Großbritanniens, aber auch eine »gewisse Erleichterung«, weil es endlich ein Abkommen gebe, sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, als sie am Sonntag in Brüssel vor die Presse trat. 585 Seiten umfasst der Text, auf den der Rat der noch 28 Länder sich verständigte. Kern des Abkommens ist eine Übergangsphase, um einen harten Schnitt zu vermeiden. Nachdem die Briten 2016 in einem Referendum für den Brexit votierten und die Regierung in der Folge die Scheidung mit der EU offiziell einreichten, ist das Vereinigte Königreich gemäß der EU-Verträge ab dem 30. März 2019 nicht mehr Mitglied der Gemeinschaft. Durch eine Übergangsphase bliebe de facto zunächst alles beim Alten.
Bis zum 31. Dezember 2020 hätten die Unterhändler dann noch Zeit, alle Fragen zur künftigen Beziehung zu klären. Notfalls könnte diese Frist auch um bis zu zwei Jahre verlängert werden. Ein denkbarer »Notfall« ist das Ausbleiben einer Lösung in der Irland-Frage. Weiterhin ist unklar, wie verhindert werden soll, dass es künftig zwischen Nordirland, das Teil des Vereinigten Königreiches ist, und der Republik Irland, die EU-Mitglied bleibt, keine Grenzkontrollen gibt. Die offene Grenze auf der grünen Insel ist ein Grundpfeiler des Karfreitagsabkommens, das 1998 dem jahrzehntelangen Blutvergießen im Nordirlandkonflikt ein Ende setzte.
Das Gipfeltreffen in Brüssel hatte noch bis Samstagnachmittag auf der Kippe gestanden. Im Hintergrund war die Ansage klar: Am Sonntag wird nicht mehr verhandelt. Ohne die zugesicherte Zustimmung aller Länder lohne der Aufwand nicht, hieß es aus Diplomatenkreisen. Ein Streitpunkt waren die Fischereirechte in britischen Gewässern. Großbritannien bekommt mit seinem Austritt aus der Gemeinschaft wieder volle Verfügungsgewalt über seine Fischfanggründe - sehr zum Leidwesen von Ländern wie Frankreich, Spanien und Irland. Diese bestehen nun etwa darauf, dass die Rechte Großbritanniens zum Verkauf von Fischereierzeugnissen auf dem EU-Markt daran geknüpft werden, dass EU-Fischer weiterhin in britischen Gewässern fischen dürfen.
Außerdem hatte Spanien Widerstand angekündigt: Sollte das Abkommen keine Positionierung der EU zur Situation in Gibraltar enthalten, werde Madrid nicht zustimmen. Die Halbinsel im Süden Spaniens gehört seit fast 300 Jahren zu Großbritannien. Spanien erhebt aber weiterhin Anspruch darauf. Der Brexit stellt die derzeitige pragmatische Lösung dieses Streits in Frage. Nach Gesprächen des spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez mit der britischen Premierministerin Theresa May am Samstag sicherte Großbritannien zu, Spanien künftig in Gibraltar betreffende Entscheidungen einzubinden. In Spanien feierte sich die Regierung, Großbritannien dieses schriftliche Zugeständnis abgerungen zu haben. May unterstrich hingegen: »Ich bin stolz darauf, dass Gibraltar britisch ist«, und an diesem Status werde sich nichts ändern.
Der Weg für eine einstimmige Verabschiedung des Scheidungsabkommens war dennoch geebnet. Postwendend auf die Einigung von Sánchez und May versandte EU-Ratspräsident Donald Tusk am Samstagnachmittag die Einladungen zum außerordentlichen Gipfeltreffen am Sonntag. Die Verabschiedung des Texts war dann lediglich Formsache.
Dem finalen Abkommen müssen nun noch das EU- und das britische Parlament zustimmen. Während die Zustimmung auf EU-Seite als ausgemacht gilt, rumort es in London. Brexit-Hardliner setzen darauf, dass die EU für Nachverhandlungen bereit wäre, sollte das britische Abgeordnetenhaus den Text ablehnen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erteilte diesem Kalkül am Sonntag eine Absage: »Diejenigen, die denken, dass sie durch eine Ablehnung des Abkommens ein besseres Abkommen haben können, werden (…) enttäuscht sein.«
May könnte der schwierigste Teil noch bevorstehen. Ein denkbares Szenario ist ihr Sturz und daraus folgende Neuwahlen in Großbritannien - mit völlig ungewissem Ausgang. Die EU wird sich deshalb auch weiterhin auf einen möglichen harten Brexit ohne Abkommen vorbereiten müssen. Wirklich zufrieden war am Sonntag niemand. »Der Brexit ist in jedem Fall ein katastrophaler politischer Fehler«, kommentierte der SPD-Europaabgeordnete Jens Geier. Der wohl lauteste Brexit-Befürworter, der britische EU-Abgeordnete Nigel Farage, kritisierte das Abkommen als »einfach nur schlecht«. Trotz baldigem Austreten Großbritanniens aus der EU sei ihm nicht zum Feiern zumute.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.