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Wege aus der Versteinerung

Ananij Kokurin schickt zwei Frauen mit einem Tisch über Land

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Zwei Frauen haben einen riesigen Tisch auf einen Handwagen geladen, der aus einem deutschen Fahrrad gebaut worden ist. In einem belorussischen Dorf machen sie sich 1986 auf den Weg nach Gorki, das heute wieder Nischni Nowgorod heißt. Weit über tausend Kilometer zu Fuß - warum fahren sie nicht mit dem Zug? Ganz einfach, mit dem wuchtigen Möbelstück hat die Bahn sie nicht mitgenommen.

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Ananij Kokurin: Der Tisch. Roman.
A. d. Russ. v. Christiane Auras. Osburg Verlag, 197 S., geb., 20 €.

Die Mutter, schon etwas kränklich, hatte ihr Haus verkauft. Die Tochter will sie mit zu sich nach Gorki nehmen. Aber auf dem Weg zusammen - täglich dreißig Kilometer, meist Nachtlager im Freien - merkt man der Älteren keine Gebrechlichkeit mehr an. Warum sie die Strapaze auf sich nehmen? Das hat mit alten Papieren zu tun, die unter der Tischplatte versteckt sind, und damit, dass die Tochter gestorben wäre, hätte ein deutscher Chirurg sie nicht auf dieser Tischplatte operiert. Der hatte im Wehrmachtslazarett genug zu tun und hatte zunächst wenig Verständnis für den Offizier, der ihn in ein Bauernhaus holen wollte. Doch als er wieder ins Auto stieg, erhellte ein Lächeln seine Züge …

Was die Mutter der Tochter und diese später ihrem erwachsenen Sohn erzählt, ist eine Geschichte, die so gar nicht zu landläufigen Vorstellungen von der Kriegszeit passt. Und noch weitere Seltsamkeiten wird es geben. Dass ein Milizionär Mitgefühl mit den beiden Frauen hat, ist wohl ein glücklicher Zufall. Dass er aber entlang der Wegstrecke die Unterstützung seiner Genossen erhält (ja, so hieß das damals), würden viele, die Russland nicht kennen, für unwahrscheinlich halten. Aber so ist das dort: Einerseits ein Bürokratismus, der unüberwindlich scheint, und andererseits: Von Mensch zu Mensch ist beinahe alles möglich.

Wie die Reise in Gorki endet, erleben wir hier nicht, denn die Mutter besteht darauf, in Moskau Station zu machen. Vom Geld aus dem Verkauf des Hauses bezahlt sie ein Luxuszimmer im Hotel »Moskwa« mit Blick auf den Roten Platz. Die Frauen gehen zum Friseur, kaufen sich schöne Kleider. Auch wenn sie das Geld später nötiger brauchen würden, speisen sie Austern im Hotelrestaurant. Vorher hatten sie vom Vater jenes hilfsbereiten Milizionärs noch so eine eigentümliche Geschichte gehört, die auf andere Weise ebenfalls mit Deutschland zu tun hatte. Absolut glaubwürdig, wirft auch sie manche Vorstellungen durcheinander, wie überhaupt die beiden Frauen auf ihrem Weg eine Erstarrung von sich abgeschüttelt haben.

Ananji Kokurin ist ein Künstlername für Andrej Kremen-tschouk, der, 1973 in Gorki geboren, an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig Fotografie studierte und unter dem Titel »No Direction Home« im Kehrer Verlag ein Fotobuch veröffentlichte, das schon internationale Preise gewann. Bilder der Sehnsucht nach Russland, während die Mutter im Roman in die andere Richtung denkt. Sie würde so gerne nach Deutschland reisen, sagt sie am Schluss mit Blick auf den Kreml. Währenddessen ist die Tochter fasziniert vom Menschengewimmel in der großen Stadt. »Eine neue, triumphierende Lebenskraft durchströmte alles, was unser Blick streifte.« Ein solches Gefühl von Kraft und Zuversicht kann auch auf den Leser übergehen.

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