Das Jahr, in dem die Sozis ihre letzte Chance verschenkten

Deutschland braucht die SPD. Deswegen hätte die 2018 Schluss machen müssen mit der Großen Koalition.

  • Robero J. De Lapuente
  • Lesedauer: 3 Min.

Vor elf, zwölf Monaten schielten die Sozialdemokraten im Lande noch traurig auf die damaligen Hochrechnungen. Sie lagen, je nach Umfrage, bei 20 oder 21 Prozent. Und das, obwohl ihnen mit Martin Schulz wenig zuvor der Mann der Stunde beschert war - und kurzfristig Hoffnung auf 30 plus X Prozent gab.

Heute schielen die Sozis nach wie vor traurig auf die Prognosen - nur mit dem bescheidenen Unterschied, dass sie dieser Tage fast schon erleichtert durchatmen würden, hätten sie diese vormals verschmähten 20 oder 21 Prozent sicher in der Tasche. Besser als die aktuellen 16 oder gar nur 14 Prozent wäre das allemal.

Doch die Chance zum Durchatmen für die SPD, sie gab es. 2018 hätte das Jahr werden sollen, in dem die Sozialdemokratie zu sich zurückfindet. In der Opposition, frei von faulen Machtkompromissen und Postenerhaltungsmaßnahmen. Nach der Bundestagswahl im September 2017 sah es ja dann auch so aus, als ob es zur notwendigen Katharsis kommen würde. Eine Reißleine musste her und es schien, als habe man das endlich, nach langen Jahren der Agonie, verinnerlicht und begriffen. Bis den Sozialdemokraten mal wieder die staatspolitische Verantwortung in die Quere kam und sie erneut, aus Mangel an Koalitionskanonenfutter, in die GroKo gingen.

Die Geschichte seither ist hinlänglich bekannt, sie muss hier nicht minutiös nacherzählt werden. Innerhalb dieses Jahres hat sich die Sozialdemokratie im Namen dieser hehren Verantwortung völlig abgewirtschaftet. Sie taugt nicht mal mehr als zweitstärkste Kraft im politischen Betrieb. In den Landtagen droht hier und dort sogar schon die Sperrklausel. Inhaltlich hat sie außerdem kaum noch etwas zu bieten. Mehrmals schien ein Ausstieg aus der GroKo geboten: Bei den Affären um Seehofer oder Maaßen; als die Union die Automobilindustrie aus der Verantwortung entließ und so fort. Aber immer wieder hat man den Kopf eingezogen und es ausgesessen.

Fähige Nachwuchsleute sind außerdem aus der Partei ausgeschieden. Marco Bülow oder Nils Heisterhagen beispielsweise sahen keinen Sinn mehr darin, auf einen Kurswandel der Partei zu hoffen. Die Neuorientierung innerhalb der Koalition ist, ganz wie man es prophezeit hatte, auf ganzer Linie gescheitert. Das sozialdemokratische Jahr 2018 endet demnach nicht als Jahr der Neuerfindung, sondern als ein historisches Katastrophenjahr: Nie war die SPD so abgetakelt wie in diesen Tagen.

Hätte sie eine wirkliche Verantwortung für das Land verspürt, so hätte sie niemals dieser Neuauflage von Merkels Machterhalt zustimmen dürfen. Denn das Land braucht eigentlich die Sozis. Richtige Sozis nämlich. Eine sozial und demokratisch beseelte Massenpartei. Denn nur mit einer starken, einer bereinigten Sozialdemokratie ist ein Ende der neoliberalen Agenda möglich. Der Hohn, den die Sozis im Niedergang von ihren Kritikern ertragen müssen, ist zwar nachvollziehbar, aber letztlich tragisch für uns als Gesellschaft.

Die SPD hat wieder ein Jahr verschwendet. Ihre Misere hat sich in diesem Zeitraum noch vertieft. Sie wollte in jenem Wahlkampf der AfD den Kampf ansagen. Das gelingt freilich nur, wenn man den Menschen eine andere Alternative für Deutschland bietet als jene, die sich fälschlicherweise so nennt. Innerhalb der Koalitionslogik und -dynamik konnte man sich nicht als solche etablieren. Das war so eingezwickt zwischen Merkel und Seehofer aber auch nie vorgesehen.

Die Sozialdemokraten haben keine Verantwortung gezeigt, als sie Anfang dieses Jahres in Koalitionsverhandlungen traten und später für eine erneute Zusammenarbeit mit der Union stimmten: Im Gegenteil, sie waren dabei voll und ganz verantwortungslos. Sie haben 2018 hergeschenkt. 2018 war dann wohl auch das Jahr, in der die Sozialdemokratie ihre letzte Chance verspielt hat – und damit unsere letzte Chance.

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