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»Hütet euch, der Reis kommt«
Ein Sammelband versucht sich in Annäherungen an die »neue« Türkei, ohne dabei die »andere« Türkei zu vergessen
Im Computerspiel »Reis, der letzte Osmane« zieht ein »hässlicher Kahlkopf mit gebleckten Zähnen« umher, eliminiert ein »Icon mit den karikierten Gesichtszügen des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der prokurdischen Demokratiepartei des Volkes (HDP), Selahattin Demirtaş«, und schubst Demonstranten ins Wasser. Seine Aktionen kündigt »der Reis« an mit den Worten: »Ey ihr Verräter, ey ihr Kollaborateure, ey Amerika, ey Europa, ey Israel, ey ihr Terroristen, hütet euch, der Reis kommt.«
Diese Szenen beschreibt die Politikwissenschaftlerin Sabine Küper-Büsch in einem Beitrag des Sammelbandes »Nach dem Putsch - 16 Anmerkungen zur ›neuen‹ Türkei«, erschienen im Mandelbaum-Verlag. Das Computerspiel - voller nationalistischer Plattitüden und neoosmanischer Phantasie - ist für sie beispielhaftes »Erzeugnis der islamisch-konservativen Propagandaindustrie in der Türkei«. Blickt man zurück aufs vergangene Jahr, dann zeigt sich, dass die beschriebene Computerspielpropaganda wiederum gar nicht so unwahrscheinlich weit weg von der Realität ist. Nicht zufällig klingt »der Reis«, wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan von seinen Bewunderern liebevoll genannt wird, auch genau wie dieser, wenn er aggressiv pöbelnd und drohend seine Anhängerschaft entzückt.
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Das Jahr 2018 begann mit einem türkischen, von neoosmanischen Ambitionen getriebenen Angriffskrieg auf Afrin in Nordsyrien. Es endet mit erneuten Kriegsdrohungen aus Ankara, diesmal gegen die östlich des Euphrat gelegenen Gebiete »Rojavas«. Dazwischen gab es vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, aus denen Erdoğan, allen Hoffnungen der Opposition zum Trotz, als Sieger hervorging - und mit denen das 2017 plebiszitär beschlossene Präsidialsystem umgesetzt wurde.
In diesem neuen System ist die Gewaltenteilung »quasi aufgehoben«, Checks und Balances gibt es nicht mehr - und der Dirigent dieses Staatsumbaus, Erdoğan, ist auf dem »Zenit seiner Macht angelangt«. So konstatieren die Herausgeber von »Nach dem Putsch«: der Wiener Politikwissenschaftler Michael Fanizadeh, der »taz«-Redakteur Volkan Ağar sowie Ilker Ataç. Letzterer ist ebenfalls Wissenschaftler aus Wien und Experte für den die Realität der »neuen« Türkei auch mit bestimmenden Flüchtlingsdeal des Landes mit der EU.
Doch auch wenn Erdoğan am Ende dieses Jahres über eine enorme Macht verfügt, so muss er sich 2019 wieder ein Stimmungsbild gefallen lassen: Im März wird in den Regionen gewählt. Dies ist natürlich nicht der einzige, aber wohl doch ein gewichtiger Grund, weshalb erneut das Kriegsgeheul angestimmt wird. Denn für Erdoğan funktioniert schon seit Jahren gut, was der türkische Publizist Irfan Aktan lakonisch zusammenfasst mit den Worten: »Kurd*innen bekämpfen und Wahlen gewinnen«. Das »klappte« 2015, als mit der HDP erstmals eine linke türkisch-kurdische Partei bei Parlamentswahlen die Zehn-Prozent-Hürde überwand, die AKP darum ihre absolute Mehrheit verlor - und daraufhin der Krieg gegen die Kurden im Land wieder aufgenommen wurde. Eine erneut abgehaltene Wahl im selben Jahr konnte zwar den Wiedereinzug der HDP ins Parlament nicht verhindern, brachte aber der AKP immerhin ihre Mehrheit zurück. Auch daran erinnern die Herausgeber des Sammelbandes bereits eingangs: eine alleinige Fixierung auf die Mitte 2018 durchgeführten Wahlen hilft dem Verständnis dessen, was da in der Türkei vor sich geht, kaum. Vielmehr habe die, wie sie es nennen, »dritte Phase« der AKP-Herrschaft eben schon 2015 begonnen und sich mit dem für das Buch titelgebenden Putsch, der dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 folgte, radikalisiert.
Die Türkei und ihr Präsident gehörten zu den 2018 wohl meistbeschriebenen und vor allem kommentierten Themen in der deutschen Öffentlichkeit. Braucht es da ein weiteres Buch, das dieser Öffentlichkeit die Türkei erklären will? Ja, allerdings. Denn die Beschreibung ist nicht immer gut gelungen. Unter anderem, weil, so Fanizadeh, Ataç und Ağar »im Fokus (...) eine autoritäre, repressive und antidemokratische Türkei allzu oft als alternativlos präsentiert wird«. Es ist daher das Anliegen der Autoren - und es ist gelungen umgesetzt - auch auf jene knapp 50 Prozent zu schauen, die bei den Wahlen im Juni Erdoğan ihre Stimme versagten oder die 2017 beim Referendum über die Einführung des Präsidialsystems mit Nein stimmten, die also Teil jener »anderen« Türkei sind, die auf dem Kampffeld, das die »neue« Türkei trotz allem noch darstellt, Akteure sind.
Einige tragende Säulen der »neuen Türkei« sind indes gar nicht »neu«. Auch dies arbeitet wiederum Sabine Küper-Büsch heraus. So sei der türkische Nationalismus etwas, das die AKP nicht nur mit ihrer Bündnispartnerin, der rechten MHP, sondern auch mit der oppositionellen, kemalistischen CHP teile. Nun allerdings bestimme Erdoğan »die Parameter dafür«.
Ilker Ataç, Michael Fanizadeh, Volkan Ağar, VIDC (Hg.): Nach dem Putsch - 16 Anmerkungen zur »neuen« Türkei, Mandelbaum-Verlag, 250 S., 16 €.
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