Die sachliche Zeugin
Das Pariser Museum Jeu de Paume zeigt das Lebenswerk der US-amerikanischen Fotografin Dorothea Lange
Von Dorothea Lange kennt man gewöhnlich ein Foto - die verhärmte Wanderarbeiterin mit dem hoffnungslos leeren Blick und mit kleinen Kindern im Arm, die sich wohl aus Scham abwenden. Dieses Bild wurde zum Symbol der großen Depression der 30er Jahre in den USA, so wie der Roman »Früchte des Zorns« von John Steinbeck. Derzeit ist im Pariser Museum Jeu de Paume, das früher als Louvre-Dépendance die Impressionisten ausgestellt hat und heute auf Fotografie spezialisiert ist, eine umfassende Ausstellung über das Lebenswerk der US-amerikanischen Fotografin zu sehen. Anhand der mehr als 100 ausgestellten Bilder erkennt man, wie vielseitig die sozial engagierte Künstlerin war, die zeitlebens konsequent an ihrem sachlich-dokumentierenden Stil festhielt. Sie war eine der ersten Frauen unter den bekannten amerikanischen Fotografen und sollte als Erste eine eigene Ausstellung noch zu Lebzeiten bekommen, doch als die im Januar 1966 im Museum of Modern Art in New York eröffnet wurde, war sie gerade Wochen zuvor gestorben.
Dorothea Nutzhorn, die später als Fotografin den Mädchennamen ihrer Mutter, Lange, als Künstlernamen wählte, wurde 1895 in Hoboken (New Jersey) geboren und stammte aus einer Mitte des 19. Jahrhunderts in die USA ausgewanderten deutschen Familie. Nach der Schule wollte sie Fotografin werden und setzte diesen Berufswunsch gegen den Widerstand der Familie durch. Sie lernte bei anerkannten Porträtfotografen in New York und eröffnete 1918 in San Francisco ein eigenes Porträtstudio, mit dem sie viel Erfolg hatte. Nach dem »Schwarzen Freitag« 1929 fotografierte sie aus eigenem Antrieb und ohne Auftrag die sichtbaren Folgen der Wirtschaftskrise, vor allem Obdachlose und Demonstranten.
Durch Bilder von einer Demonstration am 1. Mai, die eine Provinzzeitung abdruckte, wurde der Wirtschaftsprofessor Paul Schuster Taylor von der California-Universität in Berkeley auf sie aufmerksam und verwendete Bilder von ihr, um seine wirtschaftssoziologischen Artikel zu illustrieren. Beide wurden von einer staatlichen Agentur engagiert, über die Jahre 1933 bis 1934 hinweg die Wirkung der »New Deal«-Politik des Präsidenten Roosevelt auf die Depression zu dokumentieren. Daran schloss sich in den Jahren 1935 bis 1941 die Mitarbeit von Lange und Taylor in einer Gruppe von Soziologen und Fotografen an, die im Auftrag der neu gegründeten Farm Security Administration (FSA) die Lage der vielen Tausend Wanderarbeiter und ihrer Familien festhalten und analysieren sollten, die den Westen der USA auf der Suche nach Arbeit durchstreiften.
Da dieses Material nicht nur in interne Berichte und Studien mündete, sondern in großem Umfang auch der Presse zur Verfügung stand, wurden die Bilder der beteiligten Fotografen landesweit verbreitet. Dabei beeindruckten besonders die Fotos von Dorothea Lange, wohl weil die nicht nur abbilden, sondern den Betrachter unaufdringlich dazu bringen, mit dem Elend dieser Menschen mitzufühlen. Seinerzeit haben nicht zuletzt diese Fotos bewirkt, dass Lebensmittel in diese Regionen geschickt und dort staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aufgelegt wurden. Zu diesen Bildern gehört auch das der anfangs erwähnten Mutter mit ihren Kindern. In der Ausstellung ist die ganze Serie von knapp einem Dutzend Fotos zu sehen, die Dorothea Lange bei dieser Gelegenheit gemacht hat. Man kann nachvollziehen, wie sie sich Schritt für Schritt dem Sujet genähert hat, bis sie das Motiv so eingefangen hatte, dass es die stärkste Aussage habe.
Nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg wurden zwischen März und Juli 1942 Japaner oder Amerikaner japanischer Herkunft, die fast ausschließlich an der Westküste lebten, in Internierungslager für »feindliche Ausländer« deportiert. Da Dorothea Lange als bewährte Fotografin für Staatsaufträge galt, wurde ihr die Aufgabe übertragen, diese Deportationen im Bild festzuhalten. Mit diesen Fotos wollten die Behörden den humanen Charakter dieser Aktion belegen und eventuellen Vorwürfen entgegentreten, dass es Zwang und Gewalt gegeben hat.
Doch das Ergebnis war ganz anders als von den Auftraggebern gedacht, denn die von Dorothea Lange gemachten Fotos zeigen die überlegene Würde dieser Menschen, die ruhig und besonnen bleiben, obwohl sie durch Fremdenfeindlichkeit und sture Bürokratie über Nacht um ihr Heim und ihren Lebensunterhalt gebracht werden - jeder durfte nur einen Koffer mitnehmen, und sie wurden in Lagern zusammengepfercht. Diese Fotos sind seinerzeit nie verwendet worden. Sie blieben - wohl aus verständlicher Scham über diese Vorgänge - jahrzehntelang unter Verschluss, bis sie erstmals 1970 in einer Ausstellung präsentiert werden konnten.
In den Jahren 1942 bis 1944 verfolgte Dorothea Lange im Bild, wie auf einer Werft in Richmond Frachter gebaut wurden, die Waffen und Versorgungsgüter über den Atlantik zur Front in Europa bringen sollten. Auch hier beeindruckte wieder der sichere Blick für das Wesentliche, was darauf schließen lässt, dass sie ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Arbeitern aufgebaut hat, wie früher zu den Wanderarbeitern, und dass sie von ihnen akzeptiert wurde. Von solchem Herangehen zeugt auch eine Serie von Fotos aus den Jahren 1955 bis 1957, als Dorothea Lange im Gericht von Oakland (Alameda County) mit der Kamera Pflichtverteidiger und ihre Klienten beobachtete. Der Auftrag dazu kam von der Illustrierten »Life«, die aber die Bilder nie veröffentlicht hat. Sie waren wohl zu realistisch.
»Dorothea Lange. Politics of Seeing«, bis 27.1., Jeu de Paume, Concorde, Paris.
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