Zumutbarkeitslimbo mit der Bahn

Der DB-Konzern ist ein Musterunternehmen unserer ökonomisch verordneten Effizienz-Mangelbetriebswirtschaft

  • Roberto J. De Lapuente
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit nunmehr 24 Jahren ist in Bad Orb kein Zug mehr verspätet angekommen – und ebenso wenig verspätet abgefahren. Nun ja, wenn man ganz genau sein will, muss man schon konkretisieren: Denn seit 24 Jahren ist kein Personen- oder Güterzug mehr in Bad Orb gesichtet worden. 1995 wurde die Bahnstrecke aufgegeben. Seit 2001 fährt dort nur noch eine touristische Schmalspurbahn, der Bahnhof der fast 10.000 Einwohner umfassenden hessischen Stadt, beherbergt heute ein Restaurant. Vielen Orten in Deutschland erging es ähnlich. Seit 1994 hat die Deutsche Bahn 5.400 Kilometer Gleise, das sind an die 16 Prozent des gesamten Streckennetzes, stillgelegt oder abgebaut.

In der Mehrzahl fielen Strecken für den Güterverkehr unter den Sparfimmel der DB. Der Güterverkehr teilt sich heute das dezimierte Schienennetz mit dem Personenverkehr. Auf der Schiene wurde es eng in den letzten Jahren, die Gleise sind zudem teilweise marode. Fahrpläne werden indes so ausgearbeitet, dass darin die fehlenden Instandsetzungen eingepflegt werden – das ist überall da spürbar, wo Regionalzüge, ICs und ICEs runterbremsen, um schön vorsichtig und betulich über die nicht mehr ganz sicheren Verkehrswege zu schleichen. Mancher Überholvorgang für Schnellzüge ist fahrplanmäßig geregelt, sodass Regionalzüge so gut wie täglich länger für eine Fahrt brauchen als sie eigentlich müssten.

Pünktlich ist das Premiumprodukt der Deutschen Bahn, der Intercity Express (ICE), deshalb aber noch lange nicht. Sieben von zehn ICEs kamen im letzten Jahr pünktlich an – wobei die statistische Pünktlichkeit der Bahn bedeutet, eine Verspätung von bis zu sechs Minuten noch als pünktliche Ankunft zu erfassen. Offenbar schaffen es die Schnellzüge auch nur sehr unpünktlich in die betriebseigenen Werkstätten: Nur jeder fünfte ICE ist voll funktionstüchtig. Glück ist es, wenn man einen ICE erwischt, bei dem nur die Mehrzahl der Toiletten nicht funktionieren. Stimmt hingegen mit der Zugtechnik etwas nicht, heißt es – oft unter schrecklicher Informationspolitik für die Fahrgäste - umsteigen in den nächsten, dann überfüllten, ebenfalls nicht ganz funktionstüchtigen Zug.

Ausbaden darf dies das Personal. Die Übergriffe auf Zugbegleiter werden jährlich mehr. Im Jahr 2017 zählte man 2.550. Nicht inbegriffen ist der raue Ton, dem sie ausgesetzt werden. Wenn man vom Verlust gegenüber Autoritäten spricht, vom Böllerwerfen auf Notärzte und Sanitäter oder Stinkefingerzeigen gegenüber Polizisten beispielsweise, so darf man das Personal des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs nicht vergessen: Auch sie zahlen für die allgemeine Unzufriedenheit mit ihrer physischen und psychischen Gesundheit.

Zugegeben, die Literatur zum Versagen der Deutschen Bahn, ist nicht gerade selten in den letzten Tagen. Selbst Verkehrsminister Scheuer, unverdächtig großes Interesse am Schienenverkehr zu hegen, glaubt ja mittlerweile, dass was geschehen muss. Auf die Idee, dass er ministeriell eingreift, kam er indes noch nicht. Schließlich gehört es zur Präambel dieser Regierung, so lange als möglich auf eine freiwillige Selbstverpflichtung zu hoffen. Wenn dann die DB bei einer Pressekonferenz Besserung gelobt und versöhnliche Gummibärchen an die Fahrgäste austeilt, klopft sich der Minister auf die Schulter für seine erledigte Arbeit.

Die Deutsche Bahn ist letztlich ein mustergültiger Betrieb. Nicht für deutschen Innovationsgeist. Nein, für die ökonomisch verordnete Mangelwirtschaft, in der immer schön auf Kante genäht wird. Dieses betriebswirtschaftliche Geschäftsmodell arbeitet immer genau so, dass der Betriebsablauf gerade noch mal eben so nicht gestört wird. Man tanzt einen Trial-and-Error-Limbo, setzt die Latte der eigenen Ansprüche tief an und probiert aus, wie viele Kunden noch bereit sind, darunter durchzukriechen. Sind es genug, schraubt man die Stange eine Weile fest, bis man sie auf die nächstuntere Markierung legt.

Der Servicegedanke in dieser Mangelsparwirtschaft unterliegt einem Unterbietungswettbewerb. Was gerade noch so von den Fahrgästen hingenommen wird, ohne dass die in Rebellion verfallen, kann ihnen auch zugemutet werden und wird flugs als neue Firmenphilosophie etabliert. Das gerade noch so Zumutbare peu a peu auf ein noch tieferes Niveau zu drücken: So funktioniert Betriebsführung in der neoliberalen Ära. Die DB ist ein mustergültiges Beispiel hierfür.
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