LINKE hält Verfassungsrichter für befangen

Bartsch: Harbarth »sollte sich an der Urteilsfindung nicht beteiligen« / Sozialverbände und Gewerkschaften fordern Abschaffung der Sanktionspraxis

  • Lesedauer: 4 Min.

Düsseldorf. Die Linksfraktion im Bundestag hat den neuen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, vor der Verhandlung über Sanktionen im Hartz-IV-Gesetz als befangen kritisiert. »Er sollte sich an der Urteilsfindung nicht beteiligen«, sagte der LINKEN-Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch der »Rheinischen Post« vom Dienstag. Es sei »durchaus problematisch«, das Harbarth Gesetze mitbeschlossen habe, die nun vor dem Verfassungsgericht auf dem Prüfstand stünden.

Der Erste Senat des Verfassungsgerichts, dessen Vorsitzender Harbarth seit Anfang Dezember ist, verhandelt am Dienstag über die Frage, ob Abzüge vom Hartz-IV-Satz als Strafe etwa für versäumte Termine oder abgelehnte Jobs mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Harbarth hatte als CDU-Abgeordneter im Juni 2018 für die Beibehaltung der Sanktionen gestimmt.

Das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe muss darüber entscheiden, ob die Vorschriften zu möglichen Leistungskürzungen beim Arbeitslosengeld II verfassungswidrig sind. Diese Ansicht vertritt das Sozialgericht Gotha, das deshalb das Verfassungsgericht anrief. Ein Urteil wird erst in einigen Monaten erwartet.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband forderte vor dem Termin in Karlsruhe eine Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen. »Es kann nach Artikel 1 unseres Grundgesetzes nicht sein, Menschen durch eine Kürzung einer staatlichen Leistung in ein Leben unterhalb des Existenzminimums zu schicken«, sagte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider der »Augsburger Allgemeinen« vom Dienstag. Es müsse »endlich Schluss gemacht werden mit dem negativen Menschenbild, das hinter der Agenda 2010 steht«.

»Die Agenda 2010 geht davon aus, dass die Menschen von Grund auf faul sind, dass man ihnen Beine machen muss, dass sie, wenn man ihnen das Existenzminimum gibt, keine Lust mehr zum Arbeiten hätten und man sie deshalb sanktionieren muss«, sagte Schneider. Dabei würden die meisten Hartz-IV-Bezieher ohnehin einer Arbeit nachgehen: »Von den 4,4 Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Beziehern sind nur 1,4 Millionen arbeitslos.« Eine Abschaffung der Sanktionen sei dabei auch vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geboten. Auch die Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, Verena Bentele,
ist überzeugt, die Sanktionen führten zu einer systematischen Unterschreitung des Existenzminimums und somit zu einer Grundrechtsverletzung.

IG-Metall: Betroffenen fehlt es in der Regel nicht an Arbeitsmotivation

»Die Vorstellung, Menschen durch Sanktionen in Arbeit zu bringen, geht an der Wirklichkeit vorbei«, sagte Hans-Jürgen Urban vom Vorstand der IG Metall in Berlin. Es mangele »den Betroffenen in der Regel nicht an Arbeitsmotivation und auch nicht an der Bereitschaft, Zugeständnisse bei einer angebotenen Tätigkeit zu machen.« Der ganz überwiegende Teil der Sanktionen werde vielmehr aufgrund einfacher Regelverstöße verhängt - vor allem wegen Meldeversäumnissen. Urban schlägt deshalb vor: »Statt auf Sanktionen sollte stärker auf Angebote und Beratung gesetzt werden.«

»Sanktionen als verfassungswidrig geißeln«
Ex-BGH-Richter Wolfgang Neškovic im nd-Interview zur Notwendigkeit der Abschaffung der Hartz-IV-Strafen

LINKE-Chefin Katja Kipping sagte der dpa: »Hartz IV ist das Schreckgespenst unseres Sozialstaates. Schreckgespenstern begegnet man nicht leise flüsternd mit einer Taschenlampe, wie es Hubertus Heil tut.« Nötig seien Geisterjäger. »Licht an, Spuk beenden, Sanktionen abschaffen!« Bundesarbeitsminister Heil (SPD) will Hartz-IV-Sanktionen abmildern, aber nicht abschaffen.

Der Hauptgeschäftsführer des Städtetags, Helmut Dedy, kritisierte vor allem die besonders strikten Sanktionen für nachlässige Hartz-IV-Bezieher unter 25 Jahren: Die Sanktionen erhöhten die Gefahr, dass diese in Obdachlosigkeit gerieten und ihren Krankenversicherungsschutz verlören, argumentierte er in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.

Arbeitgeberpräsident offen für Nachjustierungen

Dagegen verteidigte Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer die Sanktionspraxis der Jobcenter. »Sanktionen sind und bleiben in den wenigen Fällen, die sie betreffen, ultima ratio - das letzte Mittel, aber sind und bleiben gerecht, sinnvoll und zielführend«, sagte Kramer den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland.

Als Arbeitgeberpräsident sei er offen für Nachjustierungen. »Das System muss entbürokratisiert werden und der Fokus muss noch mehr auf Langzeitarbeitslose mit Kindern und besonderen Hemmnissen gelegt werden«, sagte der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. »Zum Nachjustieren gehört aber nicht, das Prinzip des Förderns und Forderns leichtfertig über Bord zu werfen.«

Arbeitslose hätten Anspruch auf Solidarität und ebenso Mitwirkungspflichten, sagte Kramer. Dazu gehöre, zu Terminen zu erscheinen oder Jobangebote nicht von vornherein abzulehnen. »Hartz IV ist eben kein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern eine von der breiten Mitte unserer Gesellschaft finanzierte staatliche Solidarleistung.« Agenturen/nd

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -