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Neonazis in Eisenach: Angeklagter verlässt den Gerichtsaal für ein Bier
Mehrere Rechtsradikale müssen sich verantworten, weil sie über Jahre hinweg zahlreiche Straftaten in der Stadt begangenen haben sollen.
Es ist ein paar Minuten nach elf Uhr, als es einige der rechtsextremen Zuschauer im Saal 301 des Amtsgerichts Eisenach kaum noch auf ihren Sitzen hält. Es ist weniger, dass sie nicht mit dem einverstanden sind, was die Staatsanwaltschaft Meiningen vier ihrer »Kameraden« vorwirft, die zu diesem Zeitpunkt seit etwas mehr als zwei Stunden auf der Anklagebank sitzen. Zwar halten sie viele der Vorwürfe für lachhaft, weshalb sie das Geschehen vor Gericht immer wieder durch Schmähungen kommentieren. Doch vor allem drohen sie vor Lachen fast von den Stühlen zu fallen, weil einer der zuschauenden Kameraden gerade mit einem der Männer telefoniert hat, der eben noch vor dem Richter saß, und nun seinen Neonazi-Freunden davon erzählt.
Wie kann jemand, der eben noch auf der Anklagebank saß, nun mit seinen Kumpels im Zuschauerraum telefonieren, wo doch das Verfahren noch läuft? Die anderen drei Angeklagten sitzen noch im Gerichtssaal, ebenso die Zuschauer, der Richter, der Staatsanwalt, die Verteidiger.
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Antwort: Während einer kurzen Unterbrechung des Verfahrens, weil Zeugen ausfindig gemacht werden müssen, ist der Angeklagte einfach aufgestanden und gegangen. Direkt zur Tür hinaus, kaum eine Armlänge vorbei an zwei Polizeibeamtinnen. Es dauert einige Minuten, bis dem Vorsitzenden Richter das klar wird.
Geradezu bizarr aber ist die Szenerie, weil der Angeklagte seinen rechtsextremen Freunden – nach der Darstellung, die sie im Gerichtsaal lautstark verbreiten – am Telefon erzählt, warum er die Verhandlung verlassen hat und was er stattdessen tut: Bier trinken. Angeblich an einem Supermarkt. Der Vorsitzende Richter sagt später im Saal, der Mann sei offenbar »etwas Trinken« gegangen.
So sehr sich der Rechtsstaat an dieser Stelle schon hat auf der Nase herumtanzen lassen, so sehr wird es dem Vertreter der Staatsanwaltschaft Meiningen in diesem Moment dann doch zu viel: Er beantragt einen Haftbefehl gegen den flüchtigen Angeklagten, den das Gericht dann noch kurzer Beratung auch erlässt.
Klingt alles irgendwie witzig? Die Tatvorwürfe, die am Donnerstag vor Gericht in Eisenach verhandelt wurden, sind es überhaupt nicht. Tatsächlich nämlich wirft die Staatswirtschaft Meiningen den vier jungen Männern vor, über Jahre hinweg eine Vielzahl von rechtsmotivierten Straftaten vor allem, aber nicht nur in der Stadt begangen zu haben. Insgesamt 13 Anklagen verliest der Staatsanwalt an diesem Tag gegen die vier. Den Männern werden Straftaten zwischen 2015 und 2018 zur Last gelegt: darunter Sachbeschädigungen, mehrere Körperverletzungen und Diebstahl sowie Verstöße gegen das Waffengesetz.
Die Wartburg-Stadt Eisenach hat sich nach Einschätzung von Organisationen, die Menschen im Kampf gegen Rechts unterstützen, in den vergangenen Jahren zu einem Zentrum rechter Gewalt in Thüringen entwickelt. Die Neonaziszene dort sei außergewöhnlich militant und gewaltbereit, sagt ein Sprecher von Mobit. Zudem gebe es starke Kontakte in die Hooliganszene des nahe gelegenen Fußballvereins FC Rot-Weiß-Erfurt. »Durch das brutale Auftreten der Leute, die hier auf der Anklagebank sitzen, gibt es inzwischen Angsträume in der Stadt«, sagt er.
Einen Teil der Vorwürfe gegen sie räumen die Angeklagten noch ein, ehe der eine von ihnen sich aus dem Saal stiehlt. So gibt der 20-jährige Hauptangeklagte beispielsweise zu, 2017 einen Mann in der Stadt geschlagen zu haben. Einer der Mitangeklagten räumt ebenfalls ein, er habe einen Mann im Stadtgebiet verprügelt. Dass er 2015 an Schmierereien auf dem Gelände einer jüdischen Gedenkstätte in der Stadt beteiligt war, bestreitet der Hauptangeklagte dagegen. Die anderen Vorwürfe weisen er und die anderen Angeklagten zurück.
Wie das Verfahren gegen die vier Männer ausgehen wird, bleibt am Ende des Verhandlungstages offen. Erstens, weil nicht alle der geladenen Zeugen gehört werden können und deshalb ein weiterer Verhandlungstag notwendig ist. Zweitens, weil das Gericht das Verfahren gegen den durstigen Angeklagten vom sonstigen Prozess abtrennt – und der Rest des Prozesstages deswegen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Der Flüchtige war der Einzige unter den vier, der bereits älter ist als 21 Jahre und für den deshalb kein Jugendstrafrecht mehr angewendet werden kann. In solchen Fällen werden die Verfahren immer wieder nicht-öffentlich geführt; zum Schutz derer, die da auf der Anklagebank sitzen.
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