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Kampf um die »Exkremente des Teufels«
Der Fluch der Ressoucen zerstört Venezuela von Innen und weckt imperiale Interessen, erinnert Alberto Acosta an die deutsche Invasion 1903 im ölreichsten Land der Erde.
Ende des 19. Jahrhunderts brachten die Forderungen internationaler Gläubiger Venezuela in Schwierigkeiten. Die großen Mächte dieser Zeit waren Deutschland und Großbritannien. Zur Begleichung ihrer Ansprüche stellten sie im November 1902 ein Ultimatum. Weil die Regierung in Caracas keine Mittel mehr zur Verfügung hatte, nachdem sie die Erhebung neuer Steuern und die Zahlung aller Zolleinnahmen eingeführt hatte, schlug sie Einzelverhandlungen mit jedem der Gläubiger vor.
Doch die Gläubiger lehnten den Vorschlag aus Venezuela ab und schickten Anfang Dezember ihre Flotten. Bis 1903 wurde das Land von englisch-deutsch-italienischen Marineverbänden blockiert. Eine Folge war die Zerstörung der wenigen venezolanischen Schiffe. Die Städte Puerto Cabello, La Guaira und Maracaibo wurden bombadiert. Invasionstruppen gingen an Land, um ihre Landsleute und Interessen vor der »ausländischen Tyrannei« zu schützen, so die Begründung des deutschen Reichskanzlers Prinz Bernhard Heinrich Karl Martin von Bülow.
In Venezuela regierte der nationalistische Präsident Cipriano Castro und musste sich gegen den Widerstand mehrerer ausländischer Mächte zu Wehr setzen, die einen Bürgerkrieg zu dessen Sturz finanzierten. Castro wurde schließlich vom Diktator und »Benemérito« Juan Vicente Gómez gestürzt, der in Venezuela die Erdöl-Ära einleitete.
Mehr als ein Jahrhundert später ziehen die Schatten einer möglichen imperialen Aggression wieder über Venezuela auf. Eine Aggression, die wie in anderen Ecken der Erde über das Motto »Freiheit und Demokratie« gerechtfertigt wird. Die Angelegenheit scheint lokal begrenzt. In der Frage, wer der legitime Präsident Venezuelas ist, ist sie es auch. Sie geht allein die Venezolaner an, und niemanden sonst. Doch in dem Moment, in dem das Säbelrasseln der Großmächte von heute (USA, China, Russland und sogar die EU) über dieses Karibikland hinweggeht, verliert die Venezuela-Frage ihren lokalen Charakter.
Es muss auf den tieferen Ursachen der Venezuela-Krise auf den Grund gegangen werden. In den langen Jahren nach der europäischen Bombardierung von 1903 und besonders nach Ende des Ersten Weltkrieges ist Venezuela zum strategischen Erdöl-Land an der Peripherie der Weltmächte geworden, vor allem für die Vereinigten Staaten von Amerika. Die aktuelle venezolanische Tragödie gründet in der Abhängigkeit vom »Exkrement des Teufels«, wie der Venezolaner und OPEC-Mitbegründer Juan Pablo Pérez den Fluch des Erdöls nannte. Seit der Kontrolle der heimischen Asphalt-Vorkommen vor einhundert Jahren durch die »Bermúdez Company« hat die Gefrässigkeit nach dem Erdöl Venezuelas nicht nachgelassen. Zuletzt hat sich der Heißhunger durch transnationale wie durch lokale Mafias nochmal gesteigert, für jeden sichtbar an der ökologisch furchtbaren Lage im Orinoco-Becken.
Zum verzweifelten Willen, an die Rohstoffe Venezuelas zu kommen, kommen die Regierungen des Landes, die sich immer auch eine Scheibe vom Reichtum abgeschnitten haben. Ob die Regierungen nun eine größere oder kleinere Erdöl-Rente erzielt haben oder nicht, so waren sie doch oft genug funktionial für die Nachfrage der internationalen Wirtschaft. Auch die Regierung von Hugo Chávez, die vor 20 Jahren ein wenig Hoffnung (zumindest in ihrem Diskurs) auf einen Wandel dieser Wirklichkeit gegeben hat, blieb auch diese Regierung in der Logik des »Ressourcen-Fluchs« gefangen.
Zu Beginn seiner Amtszeit nutzte die Chávez-Regierung die großen Erdölexporte und etwas später die gestiegenen Erdöl-Preise zunächst zur Verdrängung und Verhinderung des Fortbestehens von Machtgruppen- und Fraktionen, die traditionell vom Erdölreichtum profitiert haben. Gruppen, welche die Erdöl-Produktion bis zum großen, gegen die Chávez-Regierung gerichteten Erdölstreik in Venezuela 2003 auch kontrollierten. Unter Chávez wurden Mittel aus der Erdölrente in großem Umfang zur Ausweitung des Sozialsystems genutzt. Und in einer Art Entschädigungslogik in Richtung historisch ausgegrenzter Gesellschaftsgruppen gelenkt. Durch diese sozialen Investitionen wurde der »unanfechtbare Segen« der bestehenden Extraktivismen gerechtfertigt, die weiter ausgebaut wurden, während die schon schwache industrielle und landwirtschaftliche Entwicklung des Landes weiter verschleppt wurde.
Dieser unersättliche Kampf um die Rente der Natur und des Machterhalts zwang die Chávez-Regierung zu immer größeren Ausgaben, um so die Kontrolle nach Innen zu verstärken. Dazu gehörte auch die Unterdrückung von Oppositionellen, was auch zu einer Schwächung der kommunitär-gemeinschaftlichen Initiativen der ersten Jahre führte. Als dann Maduro nach dem Tod von Chávez an die Macht kam, wurde die Unterdrückung brutal. Mit dem Fall der Erdölpreise wandelte sich der politische »Klientelismus« in blanke Gewaltanwendung und Erpressung. Indem der Madurismo die Bürgerbeteiligung erstickte, endete er in einer Aushölung der Demokratie, die mit jeder Volksbefragung an den Wahlurnen unwiderruflich geschwächt wurde.
In Venezuela gehen der Hyper-Extraktivismus und das andauernde Fehlen einer strukturellen Transformation Hand in Hand mit Hyper-Präsidentialismus, Gewalt und Korruption. Über diese oder jene Politikmaßnahme oder Diskurse nationaler Selbstbestimmung hinweg erzeugt die Abhängigkeit vom Erdöl und mineralischen Rohstoffen an der kapitalistischen Peripherie caudillistische Regierungen.
Diese Abhängigkeit schwächt nicht nur die staatlichen Institutionen, die zur Durchsetzung der Gesetze da sind und die Regierung kontrollieren sollen. Sie untergräbt auch Regeln und Transparenz, heizt unlautere Ermessenspielräume im Umgang mit öffentlichen Mitteln und Gemeinschaftsgütern an und verschärft Verteilungskonflikte zwischen Machtgruppen.
Sie befördert kurzfristige und planlose Politiken der Regierungen, verringert Investitionen und das Wirtschaftswachstum. Diese hyperpräsidentiellen Regierungen des Extraktivismus schaffen neue soziopolitische und ökologische Konflikte. Die Ursachen für Armut und Ausgrenzung werden nicht strukturell angegangen, auch die Rohstoff-Exportausrichtung bleibt bestehen. Dazu kommt, dass sich bourgeoise Sektoren infolge an das klientelistische Projekt »anhängen« und so von der Erdöl- oder Mineralien-Abhängigkeit und dem Status quo profitieren.
In diesem komplexen Umfeld ist der venezolanische Konflikt entbrannt. Der Druck und die Interessen des westlichen Imperialismus stoßen auf den östlichen Imperialismus, vor allem Russlands und Chinas. Der venezolanische Soziologe Emiliano Terán Mantovani erinnert daran, dass »auch China eine Verantwortung für die aktuelle venezolanische Krise hat«. Auch Russland mit seinen Multi-Millionen-Krediten ist mit dabei. Emiliano zufolge hat der lange Weg von Reformen in Politik, Recht und Wirtschaft die Abbaugrenzen von Öl und Mineralien weiter vorangetrieben, vor allem zugunsten chinesischer Kapitalinteressen, so dass wir es nahezu mit Formen neoliberaler Akkumulation zu tun haben. Die Venezuela-Krise dient den verschiedenen imperialen Mächten, die in einem neuen »Kalten Krieg« um die Weltherrschaft kämpfen.
Hinter den Diskursen von »Demokratie«, »Freiheit« und »Wohlstand« für das venezolanische Volk stehen die alten und dreckigen Interessen der Imperien, die - bewusst oder unbewusst - von den extraktivistischen Regierungen bedient werden.
Wir haben es in Venezuela also mit einer globalen Angelegenheit zu tun. Die lokale Antwort ist die Selbstbestimmung des venezolanischen Volkes, die mit einer globalen Solidaritätsaktion vereint werden muss. So kann ein interner Prozess ermöglicht werden, um den imperialistischen Zangengriff zu lösen. Wir brauchen ein »glokales« Handeln, global und lokal, um die Demokratie und Hoffnung in Venezuela von Innen wieder herzustellen.
Übersetzung: Benjamin Beutler
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