Gelebtes Vorsorgeprinzip: Scheuer entsorgen!

Es ist ein Glaubenskrieg entbrannt - über die Schädlichkeit von Dieselabgasen, meint Roberto De Lapuente. Doch auch hier muss das Prinzip lauten: Vorsorge geht vor.

  • Roberto De Lapuente
  • Lesedauer: 4 Min.

Ich bin ein bisschen ratlos. Dieser Krieg um die Deutungshoheit zu Diesel und Straßenverkehr verunsichert mich zutiefst. Die Angelegenheit ist ja in den vergangenen Monaten zu einem regelrechten Glaubenskrieg mutiert. Für Leute wie mich, die nun mal keine Wissenschaftler sind, geht es wirklich nur noch darum, was sie glauben können oder wollen - und was nicht. Ich glaube natürlich auch was, habe nichts gegen ein Diesel-Verbot, sorge mich um die Luft und nehme zudem an, dass der momentane Zustand nicht gesund sein kann.

Hundertprozentig sicher bin ich mir indes natürlich nicht. Es ist eine Vermutung, ja ein bisschen Lebenserfahrung, die sich aus der Einsicht nährt, dass Maßlosigkeit zumeist nicht richtig, nicht gesund sein kann. Ich kann natürlich auch Studien angeben oder Expertisen googeln, aber auch dann bin ich zum Glauben verdammt. Da ich weder Chemiker noch Mediziner bin, muss ich davon ausgehen, dass die mir gefälligen Expertenmeinungen es ernst nehmen mit der Wahrheit. Im Großen und Ganzen tue ich das auch.

Denjenigen, die die ganze Sache jetzt anders sehen, ergeht es da nicht anders. Sie fischen sich auch die Ansichten aus dem Angebot möglicher Wahrheiten heraus, die ihrer Ansicht entsprechen. Für sie sind die 102 Pneumologen 102 weise Leute – und Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) kein bescheuerter Mann, sondern ein aufrichtiger Freiheitsgarant. Aus meiner Warte sehen die Lungenärzte fadenscheinig aus, die die Grenzwerte für Stickoxide anzweifeln. Ärzte aus dem Ausland bestätigten mein Bauchgefühl. Ob ich den ausländischen Ärzten trauen kann, weiß ich nicht – ich hoffe es nur.

Kann ich persönlich belegen, dass Feinstaub schädlich ist? Ehrlich gesagt: Nein. Ich kann auf Arbeiten verweisen, die das tun. Und denen muss ich vorab Glauben schenken, um das guten Gewissens tun zu können. Aber ich kann sagen, dass ich gefühlsbasiert glaube, dass ein massives Auftreten von Feinstaub nicht gesundheitsfördernd sein kann, einfach weil ich mir das so vorstelle und weil ich an Staublungen denke oder an Stauballergien. In jungen Jahren, als ich als Schlosser Gusseisen fräste, hatte ich noch Tage später schwarze Popel in der Nase. Diese kleinen Partikel konnotiere ich automatisch mit dem Wort »ungesund«.

Diese ganze Debatte ist es etwas für Wissenschaftler. Politische Einflüsse spielen freilich auch hinein, aber im Kern ist sie wissenschaftlich. Aufgeführt wird sie vor einem meinungsstarken Laienpublikum. Dass plötzlich die Rezipienten zu einem wissenschaftlich geerdeten Publikum werden, darf man nicht annehmen. Jeder sucht sich stattdessen das aus, was es leichter glauben kann, was dem Gemüt entspricht - oder dem eigenen Vorteil. Manche sind da opportunistisch, andere ergebnisoffen. Aber immer ist man von den Meinungen derer abhängig, die vorgeben es genau zu wissen.

Nein, ich bitte das nicht falsch zu verstehen. Hier wird kein Wissenschaftsnihilismus betrieben. Es ist nicht egal, was Wissenschaftler erforschen, welche Positionen sie zum Sachverhalt einnehmen. Aber es ist ziemlich einerlei, wie sich das Laienpublikum dazu stellt. Was Sie oder ich denken, ist völlig irrelevant, denn es gibt ein Prinzip in unseren Breiten, auf das wir – Deutsche wie Europäer – stets ein bisschen stolz waren. Jedenfalls haben wir dieses Prinzip stolz als Grund gegen das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) angegeben: das Vorsorgeprinzip.

Das sieht vor, dass man trotz unvollständiger Wissensbasis zunächst mal Risiken und Gefahren minimieren muss. In den USA ist das anders, da wird solange weitergemacht mit einer unter Umständen gefährlichen Praxis, bis genug Schäden an Umwelt und Mensch entstanden sind, um vielleicht dagegen klagen zu können. Für viele Kritiker des Abkommens war das ein wesentlicher Punkt, warum man TTIP vermeiden sollte – sie fürchteten um das Vorsorgeprinzip in Europa.

Ganz egal, was wir laienhaften Glaubenskrieger in diesen Zeiten auch bevorzugen: Weiter so oder neue Verkehrspolitik, Raserei oder Tempolimit, Staus in Innenstädten oder Fahrverbote: Es ist zunächst irrelevant, denn es steht der Verdacht im Raum, dass hier Menschen geschädigt werden. Ob das letztlich wissenschaftlich haltbar ist, muss man nach und nach herausfinden.

Aber bis dahin muss man vorsorgen und das heißt: Tempolimit und Fahrverbote exekutieren. Nicht weil die eine Seite recht hat und die andere ewiggestrig wäre. Sondern weil es ein prinzipielles Recht auf Vorsorge statt Nachsorge gibt. Ein Verkehrsminister sollte dieses Prinzip übrigens kennen – und falls nicht, sollte man ihn vorsorglich entsorgen.
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