Forscher: Konjunktur senkt Arbeitslosigkeit, nicht Hartz IV

Fast 16 Prozent der Deutschen laut Bundesarbeitsministerium statistisch von Armut bedroht

  • Lesedauer: 2 Min.

Berlin. Der Duisburger Soziologe Gerhard Bäcker hält es für einen Mythos, dass Hartz IV für die sinkende Arbeitslosigkeit hierzulande verantwortlich ist. »Die überaus gute Entwicklung des Arbeitsmarktes in den vergangenen 15 Jahren verdankt sich dem enormen ökonomischen Aufschwung, nicht aber Hartz IV«, sagte der emeritierte Professor der Zeitschrift »Publik-Forum« (Ausgabe vom 22. Februar). Mehr Druck auf Arbeitslose schaffe keine neuen Jobs. »Der Mythos lautet: Arbeitslosigkeit ist ein Problem des Verhaltens, nicht der Verhältnisse«, sagte der Soziologe.

Bäcker hält Reformen des Hartz-IV-Systems für dringend notwendig. Vor allem müsse dafür gesorgt werden, dass möglichst wenige Menschen in die Grundsicherung gelangen. Um das zu vermeiden, sollten Arbeitslose länger Arbeitslosengeld I erhalten als bisher, forderte der Soziologe.

Er beklagte zudem, dass es das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung verletze, wenn Menschen, die zehn oder 20 Jahre lang erwerbstätig waren, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit in die Grundsicherung rutschten - und damit Personen gleichgestellt werden, die womöglich nie gearbeitet haben.

Außerdem sprach sich der emeritierte Hochschullehrer für höhere Hartz-IV-Regelsätze aus, eine eigenständige Kindergrundsicherung, eine Reduzierung der Sanktionen und vor allem ein längeres Verweilen von zuvor Berufstätigen im Arbeitslosengeld I. »Man sollte Hartz IV nicht abschaffen, aber es weiterentwickeln«, betonte Bäcker.

Unterdessen ergab eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag an das Bundesarbeitsministerium, dass mehr als jeder siebte Mensch in Deutschland statistisch gesehen von Armut bedroht ist. Demnach verfügten im Jahr 2017 15,8 Prozent über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens. 2005 hatte der Wert dem Bericht zufolge bei 14,7 Prozent gelegen.

Im selben Zeitraum stieg demnach der Anteil der Topverdiener in der Bevölkerung ebenfalls an. 2005 hätten 7,7 Prozent mehr als 200 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung gehabt, berichteten die Zeitungen weiter aus der Antwort des Arbeitsministeriums. 2017 lag der Wert demnach bei 8,1 Prozent.

»Die Bundesregierung beobachtet sehr aufmerksam, wie sich die Ränder der Gesellschaft entwickeln und ob sich Ungleichheiten im Hinblick auf wirtschaftliche, soziale und politische Teilhabemöglichkeiten der Menschen verstärken«, schrieb das Ministerium dem Bericht zufolge an die Linksfraktion. Derzeit werde ein neuer Armutszeugnis- und Reichtumsbericht erarbeitet, der vor Ende der Legislaturperiode erscheinen solle.

Linksfraktionsvize Sabine Zimmermann forderte »einen glaubhaften Kurswechsel in der Arbeits-, Sozial- und Steuerpolitik, insbesondere eine komplette Rückabwicklung der Agenda 2010«. Wer Armut wirksam bekämpfen wolle, müsse »mehr als ein paar kosmetische Korrekturen vornehmen«, sagte sie den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. Agenturen/nd

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