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Das Unbehagen der Bobos
Romy Straßenburg wurde in der DDR geboren, ist Wahlpariserin und war Chefredakteurin der deutschen »Charlie Hebdo«. Nun hat sie ein sehr persönliches Buch über Frankreich geschrieben.
Bäm! Mit einem Mal wird’s ernst. Und bitter. Über viele Seiten plätschert bis dahin die Schilderung einer Mottoparty irgendwo in Paris dahin. Thema: Mauerfall. Ein Bild von Erich Honecker als Deko an der Wand, gereicht wird Soljanka, die Gäste wurden gebeten, Bananen mitzubringen. Und dann ist da plötzlich von den Zivilpolizisten die Rede, die in einem vor der Tür geparkten Auto sitzen. Sie bewachen eine der Fetenbesucherinnen. Weil die junge Frau Mitarbeiterin der Zeitung ist, deren Namen seit dem 7. Januar 2015 auch in der Bundesrepublik jeder kennt und die in Frankreich Symbol eines Jahrzehnts des Terrors wurde: Charlie Hebdo.
Ein Blatt, das Romy Straßenburg, Gastgeberin der Mottoparty und Autorin des Buches, in dem von dieser erzählt wird, zum ersten mal bei Freunden auf dem Klo las. Über das sie dann als Korrespondentin berichtete, nachdem die Kouachi-Brüder die Charlie-Redaktion gestürmt und zwölf Menschen erschossen hatten - und deren deutsche Ausgabe sie schließlich unter dem Pseudonym Minka Schneider leitete, bevor sie wieder eingestellt werden musste.
Straßenburg kommt aus Berlin. Sie ist Jahrgang 1983, geboren in der DDR, aufgewachsen in Marzahn. Vor zehn Jahren verschlug es sie in die französische Hauptstadt. Das Paris von Romy Straßenburg ist eine Stadt der Bobos. Menschen, die ein Leben »zwischen Bürgerlichkeit und (eingebildetem) Künstlerdasein« führen, inkonsequente, überzeugungslose Individualisten, wie sie findet. Straßenburg ist eine von ihnen. Sie steht dazu. Es sei viel zu anstrengend, sich immerzu »gegen den Vorwurf zu wehren, ein Scheißbobo zu sein«. Der Bobo ist Franzosen und Österreichern das, was Deutschen der Hipster ist. Das Wort steht für »bourgeois-bohèmes« und bezeichnet, meist pejorativ, Großstädter im Alter zwischen 20 und 40, liberale Einstellung, guter Abschluss, mit irgendeinem »Projekt« beschäftigt - was mit Medien, ein Buch oder »international relations« - und im Großen und Ganzen ohne soziale Existenzangst, weil zwar selbst oft prekär beschäftigt, aber aus Familien stammend, die einem in der Not finanziell unter die Arme zu greifen in der Lage sind. Menschen, deren Kinder dreisprachig aufwachsen und für die Arbeitslosigkeit so klingen muss »wie HIV« - sie wissen, »dass es irgendwo da draußen Betroffene gibt«.
Straßenburgs autobiografisch-anekdotischer Text »Adieu liberté« ist voll von diesen Menschen. Und er erzählt von ihrem Unbehagen. Einem Unbehagen darüber, dass ihr Frankreich verschwindet, darüber, dass etwas nicht stimmt. Manche von ihnen glauben, es liege vielleicht am Erwachsengewordensein, aber eigentlich ahnen sie: Es ist etwas Größeres, das eben nicht nur sie individuell betrifft, sondern im Gegenteil, das die französische Gesellschaft schon lange erfasst hat und schließlich in ihre Leben gelangte.
Da ist zum einen der Terror. In den Jahren 2015 bis 2017 wurden in Frankreich mehr als ein Dutzend islamistische Anschläge verübt, zumeist durch gebürtige Franzosen. 2015 wurde in Frankreich der Ausnahmezustand verhängt, insgesamt sechs Mal verlängert und schließlich gesetzlich implementiert. Als Romy Straßenburg auf der geschilderten Mottoparty, Thema Mauerfall, ihre betrunkene und bewusstlose Freundin vom Sofa ins Bett verfrachten will, versucht sie sich an die Griffe zu erinnern, die sie in einem der Kurse erlernte, die nach den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo angeboten wurden von der Pariser Feuerwehr. Sie schreibt darüber, wie seit diesen Tagen die Angst in den Knochen sitzt und damit zwangsläufig auch Freiheit abhanden kommt. Die internationalen Berichterstatter, so Straßenburg, reisten bald nach den Ereignissen des 7. und 8. Januar 2015, als in einem jüdischen Supermarkt vier weitere Menschen starben, ab. »Wir waren auch nach dem Abspann des Horrorfilms noch da.« Und es ging ja weiter: Zum Beispiel am 13. November 2015, 130 Tote in einer Nacht, die meisten davon im Konzertsaal Bataclan.
Da ist aber noch etwas anderes neben dem Terror, das den Bobos Unbehagen bereitet. Es ist die Erkenntnis, dass die Gesellschaft mehr ist als die Summe der eigenen Erfahrungen. Dass diese Erfahrungen ebenso wie die Haltungen zur Welt nicht identisch sind mit denen anderer Menschen, sogar im Gegenteil. Da ist zum Beispiel die Frage, ob nicht jene mit den Universitätsabschlüssen, den Erasmus-Semestern, den Praktika auch an die hätten denken müssen, »die kein Studium, keine Auslandserfahrungen und keine Sommeruniversitäten machen können«. Hätten. Haben sie aber nicht. Stattdessen »sitzen wir sonntags gemütlich vor einem Cappuccino und lesen ein Interview mit dem Soziologen Didier Eribon (...)«, dessen Bestseller »Rückkehr nach Reims« man für sehr gelungen halte.
Diese Kritik der Selbstbezogenheit und Ignoranz ist schon etliche Male formuliert worden. Das Originelle an Straßenburgs Variante ist, dass sie - eher leise und nachdenklich als vorwurfsvoll - aus der Mitte des Bobo-Milieus selbst kommt. Das Unbehagen wird dabei mehr beschrieben als erklärt. Sowieso findet sich in »Adieu liberté« kaum Gegenwartsanalyse. Vielmehr lebt der Text von Beobachtungen, kleinen Geschichten und Anekdoten, die zusammengefügt werden zu einem Sittengemälde eben jenes Milieus, in dem sich Straßenburg bewegt. Ein Milieu, in dem Marx-Referenzen von ihr als Frau mit Osthintergrund besonders geschätzt werden - wegen der vermeintlichen Authentizität. Und weil man hier seit Macron ohnehin ganz heiß ist auf linkes Gerede, da er »uns das Diktum des extremen Zentrums« aufgezwungen und rechts und links für überwunden erklärt hat.
Sowieso, der Osthintergrund. Spielt eigentlich keine Rolle mehr. Spielt dann aber eben doch eine Rolle. Etwa, wenn der Botschaftsmitarbeiter bei einem Champagnerempfang im Élyséepalast klassistische Fritzchen-aus-Marzahn-Witze erzählt - und Straßenburg es sich verkneift, darauf hinzuweisen, dass in den 1980er Jahren durchaus privilegiert war, wer in einen der Plattenbauten am östlichen Rand Berlins ziehen konnte, die heute über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus einen »Ruf« haben.
Am Ende ist die Party vorbei - die im Élysée, ebenso wie die Mottoparty, Thema Mauerfall, der rote Faden des Buches. Aber auch die Party, die das Leben für die Pariser Bobos einmal war. Sie ist vorbei; das Frankreich, das wie eine Zigarettenwerbung »Liberté toujours« verhieß, gibt es nicht mehr. Und was an seine Stelle tritt, ist nicht ausgemacht.
Romy Straßenburg: Adieu liberté - Wie mein Frankreich verschwand. Ullstein, 240 S., 18 €.
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