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Kuba in neuer Verfassung
Hohe Zustimmung und sichtbare Diskrepanzen beim Referendum über Magna Charta
»Die Kubaner haben Ja zu Kuba und Ja zur Revolution gesagt«, kommentierte Außenminister Bruno Rodríiguez im Kurzmitteilungsdienst Twitter. Dies sei eine überwältigende Antwort an »die Ungläubigen in Washington, die über ein Ende des Sozialismus geredet haben«.
Auf einer Pressekonferenz in Havanna am Montag gab die Präsidentin der Nationalen Wahlkomission (CEN), Alina Balseiro Gutiérrez, das vorläufige Ergebnis der historischen Abstimmung vom Sonntag bekannt. Demnach votierten 86,9 Prozent der Wahlbeteiligten mit »Ja«; auf die »Nein«-Stimmen entfielen neun Prozent; leere oder ungültige Wahlzettel machten 4,1 Prozent der abgegebenen Stimmen aus. Die Wahlbeteiligung lag bei 84,4 Prozent. In absoluten Zahlen bedeutet dies: Insgesamt 73,3 Prozent der 8,7 Millionen Wahlberechtigten haben ihr Kreuz hinter das »Ja« gesetzt. Ein gutes Viertel blieb entweder der Wahl fern oder stimmte dagegen.
In einem Land wie Kuba mit traditionell sehr hohen Zustimmungsraten bergen das Fernbleiben und die Nein-Stimmen Stoff für Diskussionen und Interpretationsversuche. Balseiro wollte auf Nachfrage die Nein-Stimmen nicht interpretieren. Die Wahlkommission sei für den ordnungsgemäßen Ablauf der Abstimmung verantwortlich, ihr obliege aber keine politische Beurteilung der Ergebnisse.
Die neue Verfassung - die dezeitige Magna Charta stammt aus dem Jahr 1976 - soll die veränderten kubanischen Realitäten besser widerspiegeln und die Wirtschafts- und Sozialreformen der vergangenen Jahre rechtlich verankern. Nach der landesweiten öffentlichen Debatte in Tausenden Nachbarschafts- und Betriebsversammlungen in der zweiten Jahreshälfte 2018 waren rund 60 Prozent der Artikel vom Parlament in der Endfassung modifiziert worden. Über diese wurde am Sonntag abgestimmt. Einige der Änderungsvorschläge aus der Bevölkerung waren kleine Wendungen im Text, andere eröffneten heftige Debatten, wie jener Artikel, der gleichgeschlechtliche Ehen ermöglicht hätte, nach Widerstand der Kirchen und aus der Bevölkerung jedoch zurückgezogen wurde.
Der Verfassungstext bekräftigt den sozialistischen Charakter Kubas und die Führungsrolle der Kommunistischen Partei (PCC) in Staat und Gesellschaft. Planwirtschaft und Staatseigentum bleiben fundamental für Kubas Wirtschaft; gleichzeitig wird die Rolle des Marktes, ausländischer Investitionen und neuer privaten Eigentums anerkannt. In der politischen Struktur wird neben dem Staatspräsidenten der Posten eines Ministerpräsidenten neu geschaffen. Die lokale Ebene soll gestärkt werden.
Bei der Abstimmung über die Verfassung 1976 hatte die Wahlbeteiligung bei 99 Prozent gelegen, die Zustimmung bei 98 Prozent. Gerade einmal 54 000 Menschen sprachen sich damals gegen die Verfassung aus. Vor diesem Hintergrund verweist Eduardo Sánchez, Computerwissenschaftler der Uni Havanna, darauf, dass die PCC weiterhin die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung habe, »aber weniger als zu früheren Zeiten. Gerade einmal 73 Prozent unterstützen explizit die neue Verfassung, trotz der intensiven Debatte in den offiziellen Medien.« Die »demographische Minderheit« (der Nein-Stimmen) sei in der Nationalversammlung (ANPP) nicht abgebildet. »In der ANPP müsste es 161 Abgeordnete geben, die das Verfassungsprojekt nicht unterstützen.« Der Verfassungsentwurf war im Dezember von der ANPP einstimmig verabschiedet worden.
»In Kuba gibt es heute fast 2,5 Millionen Kubaner, die in den Vorschlägen der Regierung nicht die Lösung ihrer Probleme und Nöte sehen«, so Sánchez. Diese müssten in Rechnung gestellt werden. Der kubanische Soziologe und Politikwissenschaftler, Juan Valdés Paz, hatte im Gespräch mit dieser Zeitung es als Hauptherausforderung der Regierung bezeichnet, den mehrheitlichen Konsens in der Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Dafür sei das Thema Wirtschaft entscheidend. »Im Verlauf des vergangenen halben Jahrhunderts hat dieser Konsens, der einmal bei 97 Prozent lag, augenscheinlich abgenommen, einige Studien gaben ihm noch 70 Prozent«, so Valdés. Das entspricht in etwa dem Wahlergebnis.
Rafael Hernández, Direktor der Zeitschrift »Temas«, lobt die Regierung. Das eingegangene Risiko einer demokratischen Abstimmung, die die Abweichung, die Diskrepanz, die Ablehnung sichtbar macht, verdiene Anerkennung. »Diejenigen, die aus einem staatsbürgerlichen Bewusstsein heraus mit Nein stimmen, verdienen speziellen Respekt, denn sie repräsentieren eine aktive Bürgerschaft, die ihr durch den Verfassungsprozess anerkanntes Recht ausübt«, so Hernández. Er verwiest darauf, dass 60 bis 65 Prozent in welchem Land auch immer eine »formidable« Zustimmungsrate wären. Der Brexit hatte 52 Prozent.
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