»Ein Angriff auf alle Arbeiter«

Brasiliens Gewerkschaften wehren sich gegen Bolsonaros neoliberale Reformen

  • Mareen Butter, São Paulo
  • Lesedauer: 4 Min.

Deise Barbosa wirkt wie eine Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben steht. Selbstsicher und mit einem offenen Lächeln bietet sie ihren handverarbeiteten Schmuck an. Ein breites Tattoo in Form von Musiknoten umkreist ihren linken Oberarm, in der Nase trägt sie ein silbernes Piercing. Doch kleine Falten legen sich über ihr Gesicht, wenn sie über ihre finanzielle Situation nachdenkt.

Aktuell arbeitet die 31-jährige Mutter von zwei Kindern informell als Verkäuferin, obwohl sie einen Abschluss als Kunstlehrerin hat. Den Einstellungstest machte sie 2016, gemeinsam mit weiteren 1800 Bewerber*innen im Bundesstaat São Paulo. Abgesehen von 16 Personen, die angenommen wurden, warten alle weiteren bis heute auf eine Anstellung, erzählt Barbosa. »Die Regierung will nur Geld machen. Ich habe damals 85 Reais (knapp 25 Euro) bezahlt. Jetzt stell dir mal vor, wenn Millionen Bewerber so viel bezahlen.« Sie hebt ihr Kinn beim Sprechen, ihre schwarzen Locken hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Was sie beunruhige, sei nicht allein die Tatsache, dass sie kein regelmäßiges Einkommen habe. Hinzu komme, dass sie eigentlich schon jetzt in die Rentenkasse einzahlen müsse, wenn die neuen Reformen der rechtsextremen Regierung Bolsonaro in die Tat umgesetzt werden.

Bolsonaros Rentenreformen sind ein Schlag ins Gesicht der Arbeiter*innen: Das Renteneinstiegsalter soll von 60 auf 62 Jahre für Frauen erhöht werden - bei Männern bleibt es bei 65 Jahren -, außerdem soll die Mindestbeitragszeit von 15 auf 20 Jahre ausgeweitet werden. Bei Lehrer*innen sollen es 30 Beitragsjahre werden. Weitere Änderungen sehen unter anderem vor, dass junge Arbeitnehmer*innen auf ihr 13. Gehalt und Urlaubsgeld verzichten müssen. Die Regierung erhofft sich mit diesen Reformen, dass sich Brasilien wirtschaftlich erholt und sich die soziale Gerechtigkeit verbessert, da auch Beamt*innen mehr in die Rentenkasse einzahlen müssen. Nur das Militär blieb vorerst von den Reformen ausgeschlossen. Bolsonaro kündigte jedoch an, einen Reformvorschlag in wenigen Wochen nachzureichen.

Das Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit sieht Otávio Sampaio in der Reform. Der Präsident der Lehrergewerkschaft SINDIEDUTEC des Bundesstaates Paraná kritisiert, dass Arbeitnehmer*innen künftig mehr arbeiten müssen und am Ende weniger haben. »Es wird keine finanzielle Unterstützung mehr vonseiten der Regierung oder des Arbeitgebers geben, die Arbeiter werden stattdessen individuell für ihre Rente sorgen müssen«, sagte er dem »nd«.

In Gewerkschaftskreisen wird befürchtet, dass weitere neoliberale Erneuerungen der aktuellen Regierung die schon jetzt extremen sozialen Ungleichheiten verschärfen werden. Am Tage seines Amtsantritts hatte Bolsonaro den Mindestlohn pro Monat, der für 2019 auf 1006 Reais (etwa 235 Euro) angesetzt war, auf 998 Reais verringert. »Sie sagen, ›die paar Reais sind doch nichts‹! Aber für wen sind sie nichts? Etwa für diese Räuber in der Politik, die 900 Reais bei einem Restaurantbesuch ausgeben?«, empört sich Lavínia de Souza. Die kleine Dame mit dem runden Gesicht ist Rentnerin und Mitglied der kommunistischen Partei für das Anliegen der Arbeiter (PCO). De Souza zufolge sei der Mindestlohn in Brasilien »beschämend, denn wie soll ein Elternteil damit für die Familie sorgen?« Das gewerkschaftliche Amt für Statistik und sozioökonomische Studien (Dieese) hatte errechnet, dass das absolute notwendige Mindesteinkommen für eine vierköpfige Familie in Brasilien 3959,98 Reais (etwa 927 Euro) im Monat beträgt.

Eine weitere Liste an Reformen, die für Unmut sorgt, kommt vom ultraliberalen Wirtschaftsminister Paulo Guedes und wartet noch auf Zustimmung des Nationalkongresses. Das Programm sieht unter anderem vor, dass Familien von Gefangenen und Verwitwete erschwerten Zugang zu einer staatlichen Unterstützung haben; Landarbeiter müssen sich künftig für ihre Rente in einem speziellen Register anmelden; Mutterschaftsgeld kann nur noch in den ersten 180 Tagen ab Geburt beantragt werden, bisher belief sich die Frist auf fünf Jahre. »Dies sind Bestimmungen, die die Sozial- und Beschäftigungskrise, in der wir leben, weiter vertiefen«, heißt es dazu in einem offiziellen Statement des größten gewerkschaftlichen Dachverbands Brasiliens, dem CUT. Gewerkschaftsverbände veranstalten seit Wochen landesweite Proteste und rufen zu Streiks auf.

Deise Barbosas Falten vertiefen sich, wenn sie darüber nachdenkt, was diese Reformen für Brasilien bedeuten. »Es ist ein Angriff auf alle Arbeiter«, sagt sie wütend. Dann atmet sie tief ein und wendet sich wieder lächelnd ihrem Schmuckstand zu.

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