Discounterkritik in der sibirischen Verbannung

Warum der russische Discounter deutsche Konkurrenten wie Aldi und Lidl plötzlich seriös aussehen lässt

  • Roberto J. De Lapuente
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Dreiviertel Liter Rotwein für 1,04 Euro, 500 Gramm Kaffee für 1,97 Euro und 530 Gramm Würstchen für 2,12 Euro: So billig ist der sibirische Discounter Mere wirklich – jedenfalls ging es so durch die Presse. Er ist günstiger als Aldi, billiger als Lidl, da geht keiner mehr erstmal zu Penny. In den letzten Wochen wurde ja viel über Mere berichtet. Rätselhaft erschienen die Preise. Wie kann der Discounter aus Sibirien nur so günstig Lebensmittel anbieten? Was hat es mit dem Geschäftsmodell auf sich? Das kann doch nicht ganz koscher sein, da muss doch was dahinterstecken. Das macht doch irgendwie das seriöse Discountergeschäft in unserem Land kaputt - oder etwa nicht?

Seriöses Discountern? Mensch, es ist ja lobenswert, dass die Qualitätsmedien das mal kritisch hinterfragen. Denn reale Preise können das bei Mere nun tatsächlich nicht sein. Schade ist allerdings nur, dass die Preisschlachten deutscher Discounter ansonsten als normaler Wettbewerb abgetan werden. Denn das sind sie auf keinen Fall. Seriosität kann man Aldi und Co. sicher nicht nachsagen, wenn es darum geht, an der Preisschraube zu drehen.

Insider berichteten bereits vor Jahren über die Praktiken, Schwarzbücher listeten auf, wie man den Kunden im wahrsten Sinne des Wortes phantastische Preise ermöglicht: Als Großabnehmer können Discounter über die Einkaufsmenge die Preise diktieren. Produzenten können es sich nicht leisten, solche Großabnehmer abzulehnen – also ziehen sie mit und merken: Das können sie sich eigentlich auch nicht leisten. Wer für die Discounter produziert, minimiert die Produktionskosten, spart an Löhnen, Arbeitssicherheit und Qualität. Wichtig ist nur, dass der diktierte Preis gehalten, dass davon auch noch eigener Profit generiert werden kann.

Discountern heißt Dumping betreiben. Discounter begünstigen eine Abwärtsspirale, die das eigentliche Geschäftsmodell dieses Metiers sind. Jede Preisschlacht zwischen Discountern, jahrelang von vielen Wirtschaftsressorts großer Tageszeitungen als gesunder Wettbewerb begrüßt und als Chance für Kunden gefeiert, war im Grunde nichts anderes als eine weitere Daumenschraube für Produzenten, waren Personal- und Qualitätsvernichtungsfeldzüge für den Kundenfang.

Was in der Discounterwurst drin oder besser gesagt nicht drin ist, nämlich ein angemessener Anteil Fleisch, spricht Bände über die Geschäftspraxis. Von Separatorenfleisch ist es schwierig zu reden, es ist kaum nachweisbar. Laut Experten gibt es nicht nur Stabilisatoren, die 30 Prozent Wasser einbinden, sondern auch Pulverzusätze, die den Nachweis dieser Stabilisatoren unterbinden. So jedenfalls erklärt es der Experte Franz-Josef Voll in seinem Buch »Schweinebande!« - er meint damit aber nicht Aldi und Konsorten, sondern die Fleischindustrie an sich. Die Aldisierung der Branche hat jedoch am moralisch-qualitativen Niedergang der Fleischindustrie fleißig mitgewirkt.

Torgservis, die russische Muttergesellschaft von Mere, gibt selbst an, sich am deutschen Vorbild Aldi orientiert zu haben. Die Einstandspreise bei der Eröffnung der ersten Filiale hat man durch Restpostenaufkäufe verwirklicht. Die verkaufte Butter hatte ein Mindesthaltbarkeitsdatum von nur noch drei Wochen. Jetzt möchte man in Deutschland mindestens 100 Märkte eröffnen und durch Großabnehmerverträge gute Verkaufspreise auf Dauer einrichten. Ob das gelingt, muss abgewartet werden. Lidl fürchtet sich jedenfalls nicht. Klaus Gehring, der Chef der Schwarz-Gruppe, gibt sich selbstsicher: Mere wird keine Konkurrenz auf lange Sicht. Und er lobt Aldi. Ohne Aldi wäre Lidl eingeschlafen.

Diese angedeutete heilige Billigallianz deutscher Discounter ist tatsächlich interessant. Man hat sich in einer Koexistenz eingerichtet. Auf dem Billigmarkt ist offenbar genug für die zwei Giganten und weitere kleinere Ketten drin. Mere verbindet, Mere ist unbezahlbar. Der sibirische Discounter adelt unsere deutschen Discounter. Neben Mere sehen sie professionell, besser ausgestattet, organisierter, ja auch ein bisschen verantwortungsvoller aus. Es ist, als wäre Mere von ihnen engagiert worden, um den eigenen Ruf ein wenig aufzupolieren.

Ja, um die Kritik am deutschen Discounterwesen, diesem Beitrag zur Verschlechterung wirtschaftlicher Produktionsverhältnisse, in die sibirische Verbannung zu schicken. Früher musste man jemanden in einen Zug oder die Kutsche setzen, um ihn dorthin zu verfrachten. Heute kommt sie zu uns. Globalisierung spart Wege.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: Der Heppenheimer Hiob
- Anzeige -
- Anzeige -