Falsche Medikamente, zu wenig Pflege
Viele Demenzkranke erhalten keine angemessene psychiatrische Versorgung
Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Krankheiten auftreten. Nimmt der Anteil betagter Menschen zu, steigt in der Folge auch die Zahl der Krankheitsfälle. Auf dieses Phänomen muss sich das deutsche Gesundheitswesen erst noch einstellen, wie ein gemeinsames Symposium zweier psychiatrischer Fachgesellschaften am Mittwoch in Berlin zeigte.
So wies der Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske aus Bremen darauf hin, dass Patienten gerade im Jahr vor der Demenzdiagnose deutlich häufiger Ärzte aufsuchen als zuvor und dass sie in diesem Zeitraum auch mehr verschiedene Fachärzte in Anspruch nehmen. In der Bundesrepublik gibt es zur Zeit 1,2 Millionen Patienten mit Demenz, bei den über 90-Jährigen macht ihr Anteil 32 Prozent aus.
Jedoch erhält nur weniger als ein Drittel der gesamten Gruppe Medikamente. Unter diesen sind zunehmend dauerhafte Verordnungen stark wirkender Neuroleptika, die unter anderem beruhigen sollen. Die Verordnungszahlen steigen mit dem Pflegegrad, und Glaeske hält es zumindest für zweifelhaft, dass hierfür immer die Zustimmung der Patienten oder der Betreuungspersonen eingeholt wird. Überdurchschnittlich verschrieben werden Neuroleptika vor allem im Südwesten Deutschlands. Das Problem mit diesen Medikamenten ist, dass ihr Einsatz mit einer hohen Sterblichkeit verbunden ist. Bei der Berliner Veranstaltung wiesen etliche Teilnehmer darauf hin, dass mit intensiverer Pflege viele Neuroleptika einzusparen wären.
Mehrfach erwähnt wurde dabei das Medikament Risperidon, das eigentlich zur Behandlung von Schizophrenie vorgesehen ist sowie eine antipsychotische und beruhigende Wirkung hat. Die allgemeine Empfehlung lautet, derartige Präparate bei Patienten mit Demenz, wenn überhaupt, nur kurzfristig einzusetzen. Bei einer Langzeitbehandlung, so Michael Rapp, Psychiater an der Universität Potsdam, sei das Sterblichkeitsrisiko unter Risperidon nach 36 Monaten doppelt so hoch wie bei Patienten, die das Mittel wieder abgesetzt hatten. In Pflegeheimen würden Neuroleptika in bis zur Hälfte der Fälle dauerhaft und undifferenziert verschrieben. Auch die Verschreibungsrate von Antidepressiva sei weiterhin zu hoch.
Als Alternative wird häufig auf die sonst notwendigen »freiheitsbeschränkenden Maßnahmen« verwiesen. Auch solche Fixierungen werden vermutlich noch immer zu häufig durchgeführt. Eine Studie in Hamburger Heimen hatte ergeben, dass durch Schulung der Pflegekräfte die Rate dieser Maßnahmen um ein Drittel gesenkt werden kann. Die beiden Themenfelder weisen darauf hin, dass eine Behandlung nach medizinischen Leitlinien in Pflegeheimen noch nicht etabliert ist.
Diese Erfahrung konnte auch Beate Baumgarte aus Gummersbach bestätigen. Die Psychiaterin hat sich mehrere Jahre mit der Vergabe des Siegels »Demenzsensibles Heim« beschäftigt, das von der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie verliehen wird. Bei Beratungsbesuchen in den Einrichtungen habe sie von engagierten Pflegekräften erfahren, dass diese durchaus keine Neuroleptika einsetzen wollten. Nach Maßgabe des gesunden Menschenverstandes würde dort versucht, den Bewohnern gerecht zu werden, aber, so Baumgarte: »In den Heimen weiß niemand etwas von einer Studie.« De facto sah die Ärztin in den Einrichtungen im ländlichen Raum weder eine Versorgung durch Psychiater noch durch Gerontopsychiater. Gegeben war diese nur in zwei Pflegeheimen in unmittelbarer Nähe von psychiatrischen Kliniken. Andernorts waren es dann Pflegekräfte, die vermuteten, dass einer ihrer Bewohner gar keine Demenz, sondern eine Depression haben könne. Es fehle nicht nur in dieser Frage an einer fachärztlichen Differenzierung. Auch innerhalb der Demenzen würden behandelbare Formen übersehen.
Auf die mangelnde Personalausstattung in der Pflege wies Michael Rapp hin: Der heutige Personalschlüssel stamme noch aus einer Zeit, in der es nur etwa 25 Prozent Demenzkranke in den Heimen gegeben habe, heute seien es im Durchschnitt 70 Prozent. Eine Art Notausgang in dieser Situation könnte sein, dass mehr durchaus hilfreiche Ergo- oder auch Physiotherapie verschrieben werde. Dies sei nach neuerer Gesetzeslage möglich.
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