Politik der Panik

Die Rede von der »Bedrohung« durch Flüchtlinge nützt neoliberaler Herrschaft.

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.

Es gibt die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. 147 Staaten sind ihr beigetreten. 1948 bereits wurde von der UNO die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte angenommen. »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren … Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person … Jeder hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden …« Ein fulminanter Text, der die Vorstellung einer in Humanität geeinten Welt beschwört.

»Wo sollen sie hin, wenn zu Hause Krieg ist?« - »Aber nicht alle zu uns!«, empörte sich eine gute Bekannte. Auf einem sonnigen Balkon im Herbst 2015 kam es zu einem derartigen Meinungsstreit, dass wir uns fortan nur vorsichtig begegneten. »Die Merkel« lade die Flüchtlinge ein, ohne die Leute hier zu fragen. »Es sind doch nicht nur Kriegsflüchtlinge!« Da sagte ich etwas, das sie vollends verärgern musste: »Solange dort so viel Armut ist und hier so viel Reichtum, fließt der Strom, ob du es willst oder nicht.«

David Goeßmann hat sein Buch »Die Erfindung der bedrohten Republik« genannt. Ein meinungsstarker Titel. Genau recherchiert, wird dargestellt, wie die angebliche »Flüchtlingskrise« zur Polit-PR-Show geriet, wie mit »Wir schaffen das« eine Stimmung zelebriert wurde, die spätestens mit dem »Sodom und Gomorrha« der »Kölner Silvesternacht« umschlagen musste. »Die kurzzeitige Willkommenskultur-PR von Regierung, Wirtschaftslobby und Medien hat nämlich wenig bis gar nichts mit deutscher Realpolitik in Sachen Flüchtlingsschutz zu tun.« Deutschland hatte sich längst abgeschirmt. Laut Dublin-Abkommen (1990 unterzeichnet, 1997 trat es in Kraft) war für eine asylsuchende Person jener Staat zuständig, in den die erste Einreise erfolgte. Woher der Sinneswandel im Sommer 2015? Es sei um die »Erhaltung des Schengen-Systems« gegangen, zitiert Goeßmann die Kanzlerin. »Befürchtet wurden ein komplettes Chaos auf der Balkanroute und eine Kaskade von Grenzschließungen in der EU.«

Meine Tochter hat in jenem Sommer mit ihrem Freund eine Autotour gemacht - über Österreich nach Slowenien, mit Abstecher Richtung Kroatien und dann nach Italien. Sie hat nichts von dem Chaos gesehen, das die Fernsehnachrichten vermuten ließen. Zufall sicherlich. Aber ich habe noch die Bilder vor Augen: Menschen laufen in Scharen auf die Kamera zu. »Wacht auf, Verdammte dieser Erde«, dachte ich, so sieht das aus. Irgendwann muss dem reichen Norden ja die Rechnung präsentiert werden - für die Waffen, die exportiert, die Kriege, die geführt wurden, für den Wohlstand hier, der sich desolaten Verhältnissen dort verdankt.

David Goeßmann meint, dass das Flüchtlingsthema zur Ablenkung von vielen anderen brennenden Fragen diente - dem Klimaschutz, den Atomwaffen auf deutschem Boden. Akribisch, manchmal sogar zu ausführlich, untersucht er Zeitungsartikel und Studien auf realitätsverschleiernde Aspekte. Dafür braucht es hierzulande keinerlei Weisungen »von oben« wie in der Ideologieproduktion der DDR. In der ökonomischen Pflicht täglicher Aufregungsproduktion zeigen Medien ein berechenbares Schwarmverhalten. Oppositionelle Zeitungen wie »neues deutschland«, »Freitag« oder »junge welt« blieben bei Goeßmanns Untersuchungen leider außen vor. Was Abschottungspolitik bedeutet, damit hat sich gerade diese Zeitung ausgiebig beschäftigt: massenhafter Tod im Mittelmeer, katastrophale Zustände in Auffanglagern jenseits der Grenzen, beklagenswerte Zustände in Flüchtlingsunterkünften hier, kulturrassistische Denkschablonen, die Integration erschweren.

Nachrichten haben Wirkungen und Nebenwirkungen. Bilder der Not anderswo sind durchaus geeignet, soziale Ungerechtigkeit im eigenen Land zu relativieren. In der angeblichen »Krise«, schreibt Goeßmann, sei die deutsche Ökonomie indes stärker als zuvor gewachsen. Die Kriminalität habe keineswegs zugenommen. »Der Notstands- und Bedrohungsdiskurs« habe allerdings »eine neurotisierte Gesellschaft« fabriziert. »Populismus und Muskelprotzerei betreten als Stars die politische Bühne, um beim Volk Punkte zu sammeln und politisch restriktive und repressive Maßnahmen durchzusetzen.« Er zitiert Angela Merkel auf ihrer Sommerpressekonferenz 2016: »Die Terroristen wollen unseren Zusammenhalt zersetzen.« Unseren! Ich sehe noch, wie der damalige Innenminister Thomas de Maizière im Dezember 2016 nach dem Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz vor die Kameras trat und den starken Mann markierte. Später geriet er unter Druck, und vieles, was diesen Anschlag betrifft, ist bis heute überaus dubios. Jedenfalls konnten die Grenzkontrollen zu Österreich verlängert werden und bestehen bis heute. Polizei und Geheimdienste wurden aufgestockt. Der Untertitel des Buches »Wie Flüchtlinge und Demokratie entsorgt werden« ist berechtigt.

Ich will hier nicht über Donald Trumps Mauerbaupläne reden, die er zum nationalen Notstand stilisierte, um das Budgetrecht des Kongresses auszuhebeln. Aber augenscheinlich ist weltweit ein gigantisches Gerangel im Gange um die Absicherung neoliberaler Herrschaft und geopolitischer Interessen. Die Kriege im Nahen Osten gehören dazu. Allerdings wurde ein westliches »Migrationskontrollregime« schon in den 1980er Jahren ausgebaut. Eine »Art globale Grenz-Apartheid«, so Goeßmann. Mit dem Schlagwort »Schlepperkriminalität« verknüpfte sich die »politische PR-Botschaft, dass die Abschottungsmaßnahmen gegen Flüchtlinge in Wahrheit aus Sorge« um deren Wohl ergriffen würden. Formell wird ein Recht auf Asyl anerkannt, konkret aber wird an deutschen Schreibtischen entschieden, ob ein Herkunftsland »sicher« ist, ob man Schutzsuchende zurückschicken kann. Von Migranten gar nicht zu reden. »Wirtschaftsflüchtlinge« - ein Schimpfwort. »Wer Abschottung sagt - also Türkei-Deal, Migrationspartnerschaften, EU-Grenzschutz (inklusive der EU-Grenzschutzagentur Frontex), Hotspots, Asylrechtsverschärfung, Visa-Regime und so weiter - und die Alternativen ausblendet, der nimmt in der realen Welt ganz bewusst Tod und Elend von Flüchtlingen in Kauf.«

»Insgesamt sind es heute über 20 Millionen Schutzsuchende, die unter brutalsten Bedingungen in Kenia, Irak, Jordanien und anderswo außerhalb der EU massenhaft ›gelagert‹ werden.«- Der gern gebrauchte Slogan »Fluchtursachen bekämpfen« ist heuchlerisch allein schon angesichts deutscher Waffenexporte. »Der enorme Anstieg der internationalen Flüchtlingszahlen weltweit von 2011 bis 2015 um 55 Prozent von 10,4 auf 16,1 Millionen wurde zu großen Teilen von den Entwicklungsländern geschultert.« Die Industriestaaten würden dagegen nur drei bis vier Prozent der weltweiten Flüchtlinge und Vertriebenen versorgen. Dass es zur Abschottung keine Alternative gäbe, wird den Leuten eingeredet. Die Lösungsvorschläge, die von verschiedenen Seiten erarbeitet wurden, werden totgeschwiegen. Ängste werden geschürt.

Der Buchtitel zeigt eine Flutwelle aus Menschenleibern. Nicht an die Leichen im Mittelmeer, sondern nur an diese Welle hat meine Bekannte gedacht. Im Wissen, dass die Reichen ihre Schäfchen stets ins Trockne bringen, und in Sorge um ihren kleinen Komfort rief sie nach einem starken Staat. Ein Dilemma, charakteristisch für die Mittelschicht, die von der offenen Gesellschaft profitiert, sie im Notfall aber »opfern« würde. Man wünscht sich soziale Gerechtigkeit, ist aber unsicher, ob das nicht doch auf eigene Kosten geht. Wer weiß denn nicht, dass sich deutscher Wohlstand auf Armut anderswo gründet, dass drohende Klimakatastrophen vom reichen Norden verursacht werden? Wie sich mit solcher Beklommenheit machtpolitisch spielen lässt, liegt auf der Hand. Neoliberale Politik rüstet auf - gegen die da draußen, doch letztlich betrifft es auch uns da drinnen, sollte der Gedanke einer Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums einmal materielle Kraft gewinnen.

David Goeßmann: Die Erfindung der bedrohten Republik. Wie Flüchtlinge und Demokratie entsorgt werden. Das Neue Berlin. 463 S., br., 18 €.

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