Geht durch Wahlen, wer durch Wahlen kommt?

Yücel Özdemir berichtet, wie Erdogan und die AKP ihre Niederlage immer noch nicht einräumen wollen

  • Yücel Özdemir
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit den Regionalwahlen am 31. März versucht die türkische Öffentlichkeit darauf eine Antwort zu finden. An dem Tag, an dem ich diesen Text schreibe, sind bereits 18 Tage vergangen, doch der Kandidat der CHP (Republikanische Volkspartei) Ekrem İmamoğlu, der in Istanbul, der größten Metropole der Türkei, mit einem Unterschied von dreizehn- bis vierzehntausend Stimmen gewonnen hat, konnte sein Amt erst jetzt antreten.

Um das Bürgermeisteramt nicht aufzugeben, das die AKP seit 25 Jahren innehält, hatte sie einen Widerspruch nach dem anderen eingereicht. Um ein anderes Ergebnis herbeizuführen, wurde ein großer Aufwand betrieben, indem die Stimmen mehrmals ausgezählt wurden.

Hinter der Tatsache, dass die Wahlergebnisse nicht wie normalerweise innerhalb einiger Stunden feststanden, sondern sich die Verkündung 17 Tage hinzog, steckt mit Sicherheit Erdoğans Unwillen, seine Niederlage anzuerkennen. Denn er weiß, dass diese Niederlage die Tür zum inneren Zerfall seiner Partei öffnet.

Schaut man sich die Ereignisse der letzten drei Wochen an, gibt es auf diesen Prozess bereits Hinweise. Ein Flügel der Partei wollte die Niederlage in der Tat anerkennen und akzeptieren, dass İmamoğlu seine Urkunde ausgehändigt wird, während der andere Flügel eine Wiederholung der Wahlen forderte. Erdoğan steht an der Spitze der letzteren.

Auf einer Pressekonferenz letzte Woche sagt er gegenüber den Journalisten: »In Istanbul, einer Stadt mit über zehn Millionen Wählern, hat niemand das Recht wegen eines Stimmenunterschieds von dreizehn- bis vierzehntausend zu behaupten, er hätte gewonnen«. Das zeige auch die Wiederholung von Wahlen in einigen US-amerikanischen Staaten, in denen es einen Unterschied von 1-2 Prozent gegeben hatte.

Das ist zweifellos eine neue Herangehensweise in der türkischen Politik! Es bedeutet, dass ein beträchtlicher Unterschied bestehen müsse, damit die Opposition die Wahlen gewinnt.

Die AKP hingegen konnte im Bezirk Malazgirt in der Provinz Muş, oder dem Bezirk Yusufeli in Artvin mit nur 4 Stimmen Unterschied gewinnen.

Hinzu kommt, dass die AKP in einigen kurdischen Städten, in denen sie die Wahlen nicht einmal gewonnen hat, trotzdem den Bürgermeister stellt. Im Bezirk Bağlar der Provinz Diyarbakır hatte der Kandidat der HDP (Demokratische Partei der Völker) Zeyyat Ceylan zunächst mit 70 Prozent der Stimmen gewonnen. Seine Urkunde wurde ihm jedoch nicht überreicht, da er zuvor per Dekret während des Ausnahmezustands von seiner Arbeit entlassen worden war. An seiner Stelle wurde der AKP-Kandidat Hüseyin Beyoğlu, der nur 25 Prozent bekommen hatte, der neue Bürgermeister.

In einer ähnlichen Weise wurden drei weitere Städte der AKP übergeben, obwohl eigentlich die HDP-Kandidaten gewonnen hatten. Dass es von Seiten des Hohen Wahlausschusses zunächst keine Vorbehalte gegen die Kandidaturen der per Dekret Entlassenen gab, danach jedoch die Urkunden verweigert wurden, ist für den Sprecher der HDP Saruhan Oluç ein »totaler Hinterhalt«.

Dass Erdoğan das Präsidentenamt innehält, obwohl er die Wahlen damals eigentlich nicht gewonnen hat, ist für ihn »Demokratie«. Gleichzeitig meint er jedoch, mit einem Vorsprung von dreizehn- bis vierzehntausend Stimmen sei Istanbul noch nicht gewonnen.

Das sagt viel über das Demokratieverständnis Erdoğans und seiner Partei aus: »Wenn ich gewinne, ist Demokratie gut, wenn nicht, dann ist sie schlecht.« Dieses Verhalten erinnert unweigerlich daran, was Erdoğan vor einigen Jahren sagte: »Die Demokratie ist für uns ein Zug, aus dem wir aussteigen, wenn wir unsere gewünschte Station erreichen.«

In Istanbul passiert nichts anderes als der Ausstieg aus diesem »Zug der Demokratie«. Denn sich in Istanbul an die Regeln der Demokratie zu halten, würde einen großen Verlust für die AKP bedeuten. Nicht nur politisch. Wichtiger als das sind die finanziellen Einnahmen. Den Berichten in der Presse zufolge, werden die religiösen Gemeinden und Stiftungen durch die Stadtverwaltung in Istanbul materiell unterstützt, wofür die AKP in Form von Wählerstimmen belohnt wird. Auf den Grundstücken, die die Stadtverwaltung zur Verfügung stellt, wurden Bauaufträge für riesige Einkaufszentren und Privatwohnungen meist an AKP-nahe Baufirmen vergeben. Generell ist bekannt, dass ein Großteil der Arbeit der Stadtverwaltung vom AKP-nahen Personenkreis ausgeführt wird.

Deshalb stellt der Verlust von Istanbul ein Erbeben in unschätzbarem Ausmaß dar. Die Wahlergebnisse werde nicht ernst genommen und man diskutiert, ob man der Opposition überhaupt das Ruder überlassen sollte oder nicht. Wie oft Erdogan auch betont, »wer durch Wahlen kommt, der geht auch durch Wahlen«, die Ereignisse in Istanbul zeigen, dass Erdogan nicht die Absicht hegt, nach diesen Wahlen zu gehen und bereit ist, alles zu tun, um sich nicht zu verabschieden.

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