Autofrei und Spaß dabei

In drei Berliner Kiezen soll eine Utopie geprobt werden

  • Jérôme Lombard
  • Lesedauer: 4 Min.

Man stelle sich vor: Straßen, auf denen keine Autos fahren oder parken und die stattdessen von Anwohnern in Beschlag genommen werden, um auf dem Asphalt miteinander zu quatschen, zu essen und zu tanzen. Was wie eine Utopie klingt, soll in Berlin schon bald Realität werden. Der Sozialwissenschaftler Davide Brocchi hat sich vorgenommen, den »Tag des guten Lebens« in die Hauptstadt zu bringen. »Beim ›Tag des guten Lebens‹ geht es darum, den eigenen Kiez aus einer komplett anderen Perspektive zu erleben und in einen Freiraum umzuwandeln«, sagt Brocchi.

Im Jahr 2013 hat Davide Brocchi den »Tag des guten Lebens« initiiert, bis 2015 war er als Organisator dabei. Seit Beginn wird der »Tag des guten Lebens« von hunderten Honorarkräften und Ehrenamtlern in der dafür gegründeten Bürgerinitiative »Agora« in Köln organisiert. Dort findet er seither jährlich an einem Sonntag statt. Die Idee dahinter: Statt Nobelkarossen und Lastwagen übernehmen die Anwohner ihren Kiez für einen Tag in Eigenregie und machen auf den Straßen das, was ihnen Spaß macht. Einzige Voraussetzung dabei ist, dass an dem Tag nichts verkauft oder gekauft wird. Alles - ganz gleich ob Lebensmittel oder Dienstleistungen - soll ausschließlich getauscht, verschenkt und geteilt werden. »Die Bürger sollen von passiven Konsumenten zu aktiven Mitgestaltern werden«, sagt Brocchi. »Der ›Tag des guten Lebens‹ ist eigentlich ein Katalysator, um nachbarschaftliche und demokratische Strukturen in der Stadt zu stärken, die über den Tag hinaus bestehen bleiben«, sagt der Sozialwissenschaftler.

Der Projekttag sei ein politisches Statement für mehr direkte Demokratie, sozialen Zusammenhalt und Nachhaltigkeit. »Wir wollen zeigen, wie eine Stadtentwicklung von unten ganz konkret aussehen kann.« Das Projekt sei in Köln auch deswegen ein so großer Erfolg, weil Anwohnerinitiativen und Bezirkspolitik über die Jahre Hand in Hand eng zusammengearbeitet haben. Denn natürlich erfordert ein autofreier Sonntag eine Menge bürokratischer Organisation. Schilder müssen aufgestellt werden, die Autofahrer darauf hinweisen, dass der Bereich für den Tag gesperrt ist. Auch Ersatzparkmöglichkeiten müssen bereitet werden, wie etwa in an Sonntagen ohnehin ungenutzten Parkhäusern oder vor Supermärkten. »Der ›Tag des guten Lebens‹ hat nicht das Ziel, Autofahrer zu ärgern, sondern schafft einen breiten Raum für zukunftsfähige Alternativen, die von den Menschen gemeinsam entwickelt und erlebt werden können«, so Brocchi.

In Berlin soll der »Tag des guten Lebens« erstmals in rund einem Jahr am 7. Juni 2020 stattfinden. Die Planungen dafür laufen bereits auf Hochtouren. Anders als in Köln soll der Tag nicht nur in einem Stadtquartier, sondern gleich in drei Kiezen parallel stattfinden. »Aufgrund der Größe der Stadt braucht es in Berlin eine andere kritische Masse, um die ganze Stadt zu bewegen«, erklärt der Sozialwissenschaftler. Ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl der Kieze für den Auftakt in Berlin war eine gewisse Heterogenität der Anwohnerschaft. Durch Gespräche mit Stadtteilinitiativen und den zuständigen Bezirksämtern fiel die Entscheidung auf den Brüsseler Kiez in Wedding, den Körnerkiez in Neukölln sowie den Kaskelkiez in Lichtenberg.

In allen drei Quartieren haben sich im vergangenen Jahr Bürgerinitiativen gegründet, die sich um die Ausgestaltung des Prozesses in ihrer Nachbarschaft kümmern. Regelmäßig werden die Bewohner in den Kiezen zu Nachbarschaftstreffen eingeladen. Gemeinsam mit 44 Organisationen, die die Initiative unterstützen, haben sich die drei Kieze im Februar zu dem Bündnis »Gutes Leben Berlin - Bündnis der Kieze« zusammengeschlossen. Das soll den »Tag des guten Lebens« in der Hauptstadt in den kommenden Jahren tragen. »Jeder ›Tag des guten Lebens‹ hat einen Themenschwerpunkt und dient einer stadtübergreifenden Kampagne zu einem wichtigen Belang der Bürger in Berlin«, sagt Brocchi. Inzwischen haben die Bezirksverordnetenversammlungen von Lichtenberg, Mitte und Neukölln mit großer Mehrheit die Unterstützung des »Tags des guten Lebens« beschlossen. Über eine Gesamtfinanzierung des Vorhabens wird auf Landesebene derzeit debattiert.

Hinweis: In einer früheren Fassung dieses Textes ist uns hinsichtlich des Veranstalters von »Der Tag des guten Lebens« ein Fehler passiert. Richtig muss es heißen:

»Der Tag des guten Lebens in Köln wurde 2012/2013 von Davide Brocchi initiiert und bis 2015 mit organisiert. Seit 2015 ist er auf eigenen Wunsch nicht mehr an dem Projekt beteiligt. Seit Beginn wird der Tag des guten Lebens von hunderten Honorarkräften und Ehrenamtlern in der dafür gegründeten Bürgerinitiative Agora Köln organisiert.«

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