Was wir uns schulden

Über einen zeitgenössischen Versuch, die Solidarität neu zu vermessen.

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 5 Min.

Finden wir zueinander, wenn wir »uns wechselseitig unsere so unglaublich verschiedenen Lebensgeschichten erzählen, unsere Perspektiven tauschen«? Viele Menschen würden, gerade in der heutigen Zeit, da großes Interesse an Ich-Erzählungen und damit an unterschiedlichen Perspektiven besteht, intuitiv sagen: Ja! Heinz Bude aber bezweifelt das in seinem kürzlich in Buchform erschienenen Langessay »Solidarität - Die Zukunft einer großen Idee«.

Seinen Zweifel unterlegt Bude mit einem Beispiel, das er wiederum Fritz Breithaupts Buch »Die dunklen Seiten der Empathie« entnommen hat: Im tief gespaltenen Nordirland experimentierte die dortige Schulbehörde 2010 mit einer Unterrichtseinheit, deren Ziel es war, das gegenseitige Verständnis von katholischen und protestantischen Kindern zu fördern, um so den »tiefen Graben zumindest für künftige Generationen zu überwinden«. Erreicht werden sollte dies, indem die Kinder der einen sich mit erlittenem Unrecht der jeweils anderen Seite auseinandersetzen mussten. Obgleich durch die neue Unterrichtseinheit die Kenntnisse über den jahrzehntelangen Konflikt und die Perspektive der anderen nachweislich gewachsen waren, blieb »die Polarisierung der Weltbilder« bestehen. An der Beurteilung des Geschehenen änderte sich rein gar nichts, im Gegenteil: »Tatsächlich war die Identifikation mit ihrer eigenen Gruppe sogar stärker geworden«. Warum?

Darüber denkt nun Bude - früher Leiter des Arbeitsbereichs »Die Gesellschaft der Bundesrepublik« am Hamburger Institut für Sozialforschung und seit der Jahrtausendwende Professor für Makrosoziologie in Kassel - nach. Möglicherweise, so schreibt er, »liege dies in der nicht verstandenen Wirkungsweise von Empathie«, der Fähigkeit, sich in andere hineinzufühlen. Selbst wenn man die Erfahrungen der anderen nachvollziehen könne und sogar Sympathien für sie hege, falle bei konkurrierenden Wir-Bezügen, so Bude, die Parteinahme in der Regel für »die eigenen Leute« aus. Es sei denn! Es sei denn, »es gibt etwas Drittes, für das sich die einen wie die anderen starkmachen können, weil es ein größeres Wir bildet, in das mein Wir und dein Wir eingehen können.« Solidarität, füreinander einstehen, und sich vielleicht sogar gemeinsam für etwas stark machen, ist also weder dasselbe wie die - ohnehin nicht per se »gute« - Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, noch folgt sie aus der Fähigkeit zur Empathie. Solidarität braucht nicht gegenseitiges Zuhören, sondern »etwas Drittes«, das »größere Wir« eben.

Ein solches »Wir« zu formulieren gelingt Bude zufolge gegenwärtig vor allem von rechts. Aus dieser Richtung nämlich kämen heute zumeist »die glühenden Verfechter der Solidarität«, nicht von links. Es ist diese dann freilich eine völkische und damit ganz andere Solidarität als jene, die sich im 19. Jahrhundert die Arbeiterbewegung auf die Fahnen geschrieben hatte.

Was aus dieser Solidarität wiederum geworden ist, darüber erfährt man - leider - wenig. Dass selbst in einem Sozialstaat, in dem Aspekte von Solidarität ja quasi institutionalisiert sind, »das Motiv der Solidarität« nicht völlig verschwindet, führt Bude darauf zurück, dass es sich auf eine »Gestalt der Verwundbarkeit bezieht, die für jeden Einzelnen gilt, der nichts anderes als seine Arbeitskraft zu verkaufen hat, um sich die Mittel für ein auskömmliches Leben zu verdienen«. Er ist zudem überzeugt, dass mit dem Ende des Fordismus in den 1970er Jahren der Sozialstaat gelitten, der Betrieb als »Ort der Solidarität« an Bedeutung eingebüßt und zugleich Überzeugungen zugenommen haben, man könne sich selbst vor »Verwundungen und Verletzungen schützen«. Menschen, die der letztgenannten Auffassung sind, nennt Bude »Selbstbesorgte«, die sich eben nicht »als Kandidaten für die Unterstützung durch die Allgemeinheit der anderen (sehen), weil sie (beispielsweise) die Ratschläge für eine resiliente Lebensführung beherzigen«. Krankheit und Arbeitsunfähigkeit resultieren in den Augen dieser »Selbstbesorgten« folglich nicht mehr aus dem »Schicksal kapitalistischer Lohnarbeit«, sondern aus einer individuellen, im Zweifel »falschen« Lebensführung und gelten damit als selbstverschuldet. Was diese sicherlich zutreffende Beobachtung über die Verinnerlichung neoliberaler Ideologie nun für die im Titel angekündigte Zukunft der Solidarität bedeutet, bleibt allerdings offen - wie zu vieles in dem Text.

Denn so eingängig einige Abschnitte sind, so zermürbend sind weite Strecken des Buches, dessen Autor zunächst erfrischend fragend, reflektierend daherkommt, schnell aber vor allem Ratlosigkeit produziert: Wo ein Gedanke Gestalt anzunehmen droht, wechselt Bude unvermittelt die Spur. Ideen verflüchtigen sich, noch bevor man sich überhaupt auf sie einlassen konnte; historische Fakten gehen in gelehrte Theoriebezüge über, ohne je vertieft zu werden. Er selbst nennt das »Meditationen über die Zukunft der großen Idee Solidarität«. Bei dem ganzen Dies und Das bleibt schließlich das Buch ohne Pointe. Ohne Anregungen allerdings nicht, doch bewegen sich diese derartig im Ungefähren, dass zu befürchten ist, dass die Schrift vor allem als Steinbruch gebraucht werden wird: Fast jeder, der sich Gedanken über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Solidarität macht, wird sich hier etwas herausklauben können.

Nun ist aber gerade die Solidarität als »leerer Signifikant«, als weitverbreiteter, aber dennoch unbestimmter Begriff also, in dem sogar konträre Überzeugungen Platz finden, eine »große«, mitunter »gefährlich große Idee«, die vielleicht weniger erratische Meditationen bräuchte, um wieder zünden zu können und stattdessen mehr Verständigung beispielsweise über die Frage: Wer ist denn das »größere Wir«, das es fertigbrächte, Spaltungen zu überwinden? Und - vor allem - was ist es, das diejenigen, die solidarisch zueinander sind, die also eine gegenseitige Verpflichtung eingehen, einander schulden? Sigmar Gabriel, der gescheiterte Ex-Vorsitzende der SPD, schreibt in seiner Deutung von Bude, es sei beispielsweise die Bereitschaft, »vorhandene Arbeit anzunehmen«, um die Solidarität der steuerzahlenden Gemeinschaft nicht überzustrapazieren. Er verteidigt also unter Rückgriff auf »Solidarität« Aspekte des Hartz-IV-Systems. Dem würden sicherlich viele widersprechen, die dieses als, im Gegenteil, Gesetz gewordene Entsolidarisierung betrachten. Mieterinnen und Mieter in Berlin wiederum zeigen gegenwärtig: Solidarität ist auch die Bereitschaft, sich gegenseitig den Rücken zu stärken, um ein geteiltes Problem - die explodierenden Mieten - zu lösen. Ihre praktizierte Solidarität verweist, wie auch die »Kühnert-Debatte«, in der Fragen des Eigentums und der Wirtschaftsdemokratie im Raum stehen, darauf, dass es ein alle umfassendes verbindendes »Drittes« in der Klassengesellschaft kaum geben kann. Die Frage ist also nicht nur, wer ist das »größere Wir«, das es braucht, um von der Empathie zur Solidarität zu gelangen, sondern auch: wer nicht?

Heinz Bude: Solidarität - Die Zukunft einer großen Idee. Hanser, 175 S., 19 €.

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