»Es hat eine strafende Sicht Einzug gehalten«

In Berlin Lichtenberg wurde Essen der Tafel als Einkommenaufs Wohngeld angerechnet. Armutsforscher Butterwegge sieht darin einen Mentalitätswandel

  • Alina Leimbach
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Selbstverständnis der gemeinnützigen Tafel in Deutschland ist klar. Sie verteilt gespendetes, nicht mehr verkäufliches Essen an Menschen, die aufgrund ihrer materiellen Lage darauf angewiesen sind. Zum Selbstverständnis gehört aber auch, dass sie sich nicht als Ersatz für staatliche Leistungen sieht. Sie entlasse den Staat nicht aus der Pflicht »die Grundversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten«, heißt es beispielsweise im Leitbild der Berliner Tafel.

Doch genau das ist wohl passiert: Das Bezirksamt Berlin Lichtenberg kürzte einem Wohngeldberechtigen die Leistung um 100 Euro monatlich – weil er Lebensmittel von der Tafel erhielt. Dort arbeitete er laut »rbb« auch ehrenamtlich mit. Für das Bezirksamt war klar: Das gespendete Essen sei »Einkommen«, das vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wurde. Der Gegenwert wurde pauschal auf 241 Euro monatlich festgesetzt, so das Bezirksamt in einer Stellungnahme. Der Widerspruch gegen die Anrechnung der Lebensmittel wurde im März abgelehnt. Die Frist für eine mögliche Klage ist verstrichen – der Betroffene machte davon laut Tafel nicht Gebrauch.

Für den Armutsforscher Christoph Butterwegge manifestiert sich an dem Fall ein grundsätzlicher Mentalitätswandel in Deutschland: »Dass nun eine solche ergänzende Leistung als Ersatz für eine sozialstaatliche Leistung gewertet wird, hat eine neue Qualität.« Armut werde seit den Hartz-Reformen potenziell kriminalisiert, so Butterwegge. »Es hat eine strafende und kontrollierende Sicht auf Betroffene in das deutsche Recht – aber scheinbar auch in die Gesellschaft – Einzug gehalten.«

Für den Berliner Anwalt Jan Becker ist das Vorgehen des Bezirksamts Lichtenberg rechtswidrig. Gegenüber »neues deutschland« erklärte er: »Rechtlich gesehen sind die Lebensmittel, die die Tafel ausgeben, oft gar keine verkaufsfähigen Lebensmittel mehr, sondern Müll. Sie dürfen wegen ihres kurzen oder sogar überschrittenen Mindesthaltbarkeit gar nicht mehr frei verkauft werden. Deshalb sind sie kein geldwerter Vorteil, weil der Ware gar kein Wert entgegen steht.« Wenn zudem, wie bei vielen Tafeln üblich, ein Euro von den Lebensmittel-beziehenden quasi als Kaufpreis gezahlt werde, könne man erst recht nicht von »Einkommen« sprechen, so Becker. Auch der Sozialrechtsexperte Harald Thomé konstatiert: »Das Wohngeldgesetz lässt gar keine solche Anrechnung zu. Ich halte das für eindeutig rechtswidrig.« In 25 Jahren Beratererfahrung habe er noch keinen Fall wie diesen gehabt.

Auch die Vorsitzende der Berliner Tafel, Sabine Werth, weist in einer Stellungnahme auf die Verantwortung des Bezirksamts hin: »Der Staat hat eine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Bürger*innen, der er nachkommen muss. Diese Pflicht darf in keiner Weise mit dem gemeinnützigen, ehrenamtlichen und freiwilligen Engagement der Berliner Tafel verrechnet werden«, so Werth.

Lesen sie auch zum Thema: Gefährlicher Präzedenzfall. Marie Frank ärgert sich über das Bezirksamt Lichtenberg. Ein Kommentar von Marie Frank

Nach dem öffentlichen Aufschrei erklärte die Bezirksstadträtin Katrin Framke (parteilos für Die LINKE), eine juristische Stellungnahme vom Rechtsamt sowie der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung einzuholen. Persönlich sei sie der Auffassung, »dass Unterstützung durch Essen, grundsätzlich nicht als Einkommen angerechnet werden sollte.« Bezirksbürgermeister Michael Grunst (LINKE) sagte »neues deutschland«: »Ich halte das für absurd. Beim Jobcenter wird das nicht angerechnet, wieso sollte es nun beim Wohngeld so sein.« Er hofft, bis Donnerstag auf eine Prüfung des Anliegens durch das Rechtsamt.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.