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Kleiner Traum für die neuen Europäer
Arabische Zuwanderer wollen sich bei den Wahlen einbringen - auch wenn sie sich nicht immer als Deutsche akzeptiert fühlen
»Ja, natürlich werde ich mich an den Europawahlen beteiligen. Tue ich das nicht, gebe ich meine Stimme womöglich Wählern oder Wählerinnen, die rechts orientiert sind und andere auf deutschem Boden ablehnen«, sagt Ahmed Al Rawi. Der gebürtige Syrer lebt seit 2002 in Deutschland. Vielleicht hat der Aufstieg der rechten und nationalistischen Parteien in Europa, die Ausländern, Migranten und anderen Minderheiten auf dem Alten Kontinent feindlich gegenüberstehen, Al Rawi zu seiner Antwort veranlasst.
Auch Noorullah Rahmani ist dieser Meinung. Der Afghane lebt seit sieben Jahren in Deutschland, ist seit wenigen Monaten deutscher Staatsbürger.
Doch nicht nur deswegen beteiligen sich die neuen Europäer an den Europawahlen. Al Rawi, der orientalische Archäologie an der Universität Tübingen studiert hat und heute als Kulturvermittler beim Berliner Kulturverein Lora tätig ist, will mit seiner Beteiligung an den Wahlen seinen Kindern ein Beispiel geben, sich in die Gesellschaft einzubringen.
Der Journalist Noorullah Rahmani, der in Brandenburg lebt, sagt, seine Teilnahme sei eine Reaktion auf seine Wahlerfahrung in seinem Heimatland Afghanistan. »Dort war ich nur zweimal wählen, einmal ging es um den Präsidenten und einmal um das Parlament. Beide Male wurde ich wegen dem, was ich gewählt hatte, enttäuscht«, sagt er.
Aber fühlen sich Rahmani und Al Rawi nach Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft auch europäische Staatsbürger? »Diese Frage ist schwer zu beantworten«, sagt Al Rawi. »Ich weiß nicht, ob meine deutsche Staatsbürgerschaft mich als Europäer qualifiziert und ob ich mich dadurch als Europäer fühle«, so der Archäologe. Er betont, dass seine Herkunft und seine Gefühle Syrisch und Arabisch seien, dies aber nicht bedeutet, dass es ihm egal sei, was für die Europäische Union wichtig ist. »Großbritanniens Austritt aus der EU schmerzt mich, und ich würde mich freuen, wenn die Türkei, die meinem Land sehr nahe ist, in die EU eintreten würde«, sagt Al Rawi.
Er sieht die EU als einen kleinen Traum. »Ich wünsche mir, das Europa stark ist und Potenzial hat, um positive Auswirkungen auf diese Welt zu haben«, sagt er. Er glaubt, dass seine Entscheidungen und seine Mitwirkung an der Europawahl Auswirkungen auf die Zukunft seiner Kinder haben werden, und zwar durch die Entscheidungen, die dann im Europäischen Parlament getroffen werden.
Der Aufstieg rechter Parteien und nationalistische Strömungen in Europa sind Gründe, warum Rahmani und Al Rawi an den Europawahlen teilnehmen. Diesen Aufstieg verfolgt auch Abu Maan mit Sorge, doch er hat auch andere Sorgen: es ist die fehlende Akzeptanz. Seit mehr als zehn Jahren lebt der Syrer in Deutschland und hat noch immer das Gefühl, weder Europäer noch Deutscher zu sein. »Die Gesellschaft wird mich nie als Deutschen sehen, auch nicht, wenn ich Helmut Kohl heißen würde«, sagt er. Trotzdem interessiert er sich für Deutschland und für Europa. »Ich freue mich über alles Gute, das in Deutschland und Europa passiert und bin traurig, wenn etwas Schlechtes passiert - ich bin doch Deutscher«, sagt er. Schließlich sei Deutschland auch der Geburtsort seiner Kinder und deren Heimat.
Der Artikel ist im Original auf Arabisch und zuerst auf dem Onlineportal von »Amal, Berlin!« erschienen. Übersetzt wurde er in Kooperation mit dem von der Initiative »Gesicht Zeigen!« getragenen Projekt Media Residents von Karin al Minawi.
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