- Politik
- AfD in Ostsachsen
Wo das Ressentiment regiert
In Teilen Ostsachsens ist die AfD mit der Kommunalwahl als Volkspartei etabliert.
Nein, es war kein Ausrutscher. Als im September 2017 der Bundestag gewählt worden war, druckten sächsische Zeitungen Karten mit den Wahlergebnissen der AfD im Freistaat. Je östlicher, um so dunkler wurde das blau. Die Zustimmung für die Rechtspopulisten war so groß, dass sie auf Landesebene die seit 1990 ununterbrochen regierende CDU hinter sich ließen - wenn auch nur um ein Zehntelprozent. In den Wahlkreisen Bautzen und Görlitz holte die AfD Direktmandate. Der Schock saß tief, wurde aber von manchem auch beiseite gewischt. Es sei, so hoffte man, eine Wahl im Zeichen der Flüchtlingskrise gewesen; 2019, wenn in Sachsen der Landtag gewählt wird, würden die Dinge anders aussehen.
Jetzt zeigt sich: Das war ein Trugschluss. Bei der Europawahl, nur drei Monate vor der Abstimmung zum Landtag am 1. September, triumphierte die AfD mit 25,3 Prozent; sie lag nun schon 2,3 Prozentpunkte vor der CDU. Bei der Wahl der Kreistage blieb sie zwar im Westen des Freistaats meist auf Platz zwei; im Osten aber setzte sie ihren Siegeszug auch in den Kommunen fort. Den Kreis Bautzen holte sie mit 0,3 Prozentpunkten Vorsprung; im Kreis Görlitz lag sie mit 29,1 Prozent mehr als drei Punkte vor der CDU. Im neuen Kreistag sitzen dort 27 Abgeordnete der AfD und nur noch 23 statt bisher 36 von der CDU. Die Linkspartei stellt gerade noch acht Mitglieder. In den Gemeinden holte die AfD teils so hohe Ergebnisse, dass sie gewonnene Sitze aus Mangel an Kandidaten nicht besetzen kann. Die Partei, frohlockte Landeschef Jörg Urban, sei in Sachsen »keine Protestpartei« mehr; sie ist, zumindest in einigen Regionen, Volkspartei - und das, obwohl der Landesverband zu den rechtslastigsten bundesweit gehört.
Prestigeprojekt Sachsen: Für die AfD ist Sachsen ein Art Brückenkopf. Hier zog die Partei 2014 erstmals in einen Landtag; hier wurde sie zur Bundestagswahl 2017 stärkste Kraft; und hier strebt sie nun erstmals in eine Landesregierung. Das ist das erklärte Ziel der Partei, wobei sie im Vollgefühl der Kräfte betont, sie wolle nur als »Seniorpartner« in eine Koalition mit der CDU gehen, die sich »unterordnen« müsse. Ein Prestigeerfolg wäre zuvor am 16. Juni der Gewinn des ersten Oberbürgermeisterpostens in Görlitz. In Runde eins lag ein AfD-Mann vorn.
Normalisierung verhindern - diese Devise gab Matthias Quent, Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena, in der »Sächsischen Zeitung« aus. Man müsse zur Kenntnis nehmen, dass es in Ostdeutschland ein rechtsradikales Potenzial von 20 bis 25 Prozent gebe, das kurzfristig nicht abzuschmelzen sei. Verhindern müsse man aber, dass es zu einer »weiteren Normalisierung« dieser Positionen komme und sie »in die Gesellschaft einsickern«. Das wiederum wird zunehmend schwer, wenn die AfD bei protokollarischen Terminen mit ihren Direktabgeordneten anwesend ist und Stadt- sowie Gemeinderäte dominiert.
Bleiben und kommen - dazu rät die Bautzner Bloggerin Annalena Schmidt als Strategie gegen den Rechtsruck in Sachsen. Mancher denke nach den AfD-Erfolgen an Wegzug. Aber, gab Schmidt auf Twitter zu bedenken, man könne Sachsen nur von innen verändern: »Die derzeitige politische Situation ist auch darauf zurückzuführen, dass viele gegangen sind.« Nicht zu vergessen: Von den Gebliebenen wählen selbst im Kreis Görlitz 70 Prozent nicht die AfD.
Warum aber ist die AfD in Ostsachsen derart stark? Als die Bundeszentrale für politische Bildung 2017 deren Wählerklientel untersuchte, stellte sie fest, die Partei sei in Ostdeutschland vor allem in ländlichen Regionen stark, die unter Abwanderung litten und ökonomisch abgehängt zu werden drohten. Görlitz ist dafür ein Paradebeispiel. Der Kreis hatte Ende 1990 noch 367 000 Einwohner. Binnen 29 Jahren ist die Zahl um 107 000 gesunken - ein Minus von 29 Prozent vor allem durch Abwanderung. Gegangen sind die Jüngeren, nicht zuletzt jüngere Frauen. Sie fanden keine Arbeit mehr in einer Region, in der von einstigen Großarbeitgebern wie dem Textilkombinat Lautex oder dem Landmaschinenkombinat »Fortschritt« nur spärliche Reste blieben. Unter denen, die blieben, sind viele Ältere, schlechter Ausgebildete, weniger Mobile. Das Durchschnittsalter liegt mit 49 klar über dem Bundesdurchschnitt. Bald ist jeder Dritte älter als 65 Jahre. Wer blieb, hat weniger zum Leben. Der Durchschnittslohn eines Vollbeschäftigten im Landkreis ist der niedrigste bundesweit: 2183 Euro, 1000 Euro unter dem Bundesdurchschnitt.
Das sind mehr als nur Zahlen; es hat Folgen für das tägliche Leben. Weil die Bevölkerung schrumpft, wurde Infrastruktur abgebaut: Zugverbindungen, Buslinien, Schulen, Läden, Polizeiposten. Auch im sozialen und kulturellen Leben hat der Aderlass dramatische Folgen: In Vereinen, Chören, Kirchgemeinden gibt es kaum Nachwuchs. All das schlägt aufs Gemüt, befördert ein Gefühl des Abgehängt- und Vergessenseins - und Enttäuschung über eine Landespolitik, die noch Polizistenstellen kürzen wollte, als der Mangel längst sichtbar geworden war, gerade in einer Region, die an Polen und Tschechien grenzt und in der nach deren EU-Beitritt 2004 Grenzkriminalität ein ernsthaftes Problem war. Seither sind die Zahlen gesunken, die Angst nicht. Zugleich ist zum Beispiel eine Schnellstraße, die das Dreiländereck im Süden des Kreises mit Polen und Tschechien verbinden soll, wegen immer neuer Planungen auch nach 20 Jahren nicht durchgängig befahrbar. Die CDU wird jetzt teils dafür abgestraft, dass ihre Minister über ein blühendes Land fabulierten, Alltagsprobleme aber nicht zur Kenntnis nehmen wollten.
Außerdem aber hängt ihr die Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 an. Schon vorher hatte sich in Sachsen rassistische Haltungen offen manifestiert: Die ersten Pegida-Kundgebungen gab es 2014; viele Teilnehmer reisten aus Ostsachsen an. Damals habe sich, sagt David Begrich vom Verein »Miteinander« in Magdeburg, eine »tektonische Verschiebung der politischen Gemengelage« offenbart: von sozialen Protesten von 2004 gegen Hartz IV zu einer Bewegung, die sich »autoritär und rassistisch« artikulierte und in Sachsen auf fruchtbaren Boden fiel. Dort hatte die CDU einen Sachsen-Stolz propagiert, den andere nun zu einer Art »Sachsen first« steigerten. Begrich sieht einen »vielschichtigen Ressentimentmix«, der von einer in Ostdeutschland zu beobachtenden »regressiv-autoritären gesellschaftlichen Unterströmung« genährt wird. Manifest wurde er zunächst im Streit um die Zuwanderung; inzwischen habe sich in Teilen der Bevölkerung eine »grundsätzliche Ablehnung westlicher bzw. westdeutscher sozialer Praxen und Kulturen« entwickelt; eine Ablehnung von, wie Christian Bangel in der »Zeit« schrieb, »Pluralismus, Minderheitenschutz, kompromissorientierter politischer Praxis«. Diese Ablehnung ist durchaus kompatibel mit einem von Begrich bei Menschen der mittleren und älteren Generation beobachteten Gefühl der »kulturellen Fremdherrschaft«, in der eigene (ostdeutsche) Erfahrungen nicht vorkommen. Eine Tagung kürzlich in Dresden trug den Titel »Kolonie Ost?«; viele Ostdeutsche lassen das Fragezeichen wohl weg.
Die AfD spielt auf dieser Klaviatur sehr geschickt, ganz gleich, ob es um Genderfragen geht, die Haltung des Westens zu Russland - oder den Wolf. Dass mit dem Thema Wahlkampf gemacht werden kann, sorgt außerhalb Sachsens und zumal in Großstädten für Kopfschütteln. In Ostsachsen indes nehmen viele den Wolf als Gefahr für traditionelles dörfliches Leben wahr, die von (oft westdeutschen) Naturschützern klein geredet und von der Politik nicht angemessen angegangen werde. Der wirkliche Schaden, den Wölfe in Ostsachsen anrichten, ist überschaubar; der politische Flurschaden, der sich mit ihnen anrichten lässt, dagegen enorm. »Am Wolf entscheidet sich die Wahl«, sagte der Görlitzer CDU-Landrat vor einigen Wochen. Jetzt ist die Partei, die das Thema am stärksten hochkocht, stärkste Kraft im Kreistag.
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