Die Gedanken sind frei
OSSIS TAGEBUCH
3. Juni 1989: Im Volkspark Friedrichshain war wieder mächtiges Gewusel und Gewimmel, mit Blumenmädchen und Drehorgelspieler. Die Kinder amüsierten sich über Clownerien und verdrückten eine Zuckerwatte nach der anderen. Mein Sohn war begeistert von der Feuerwehr, saß stolz hinterm Lenkrad; die Tochter schwärmte für die Hochseilartisten. Das »ND« hatte zum alljährlichen Pressefest geladen, eine halbe Million Menschen, so wurde vermeldet, haben es besucht. Auch Radlegende Täve Schur war da. Ein wahres Volksfest, auf dem Boutique- und Bücherstände nicht fehlten. Ich kaufte mir Landolf Scherzers »Der Erste«, ein kritisches Buch aus der Perspektive des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung von Bad Salzungen. Ich ließ es mir vom Autor - ein sympathischer Typ - signieren und wollte ihn eigentlich fragen, wann er ein Buch mit dem Titel »Der Letzte« schreibt, verkniff mir aber die Frage, da ich nicht weiß, wie viel Scherz Scherzer verträgt. Zu den am weitesten angereisten internationalen Gästen gehörte neben chinesischen Volkskünstlern und Spitzenköchen, die exotische Klänge und Speisen boten, eine Abordnung des Zentralorgans der KP China, »Renmin Ribao«. Insgesamt sollen 36 Bruderzeitungen das ND-Fest beehrt haben.
5. Juni: Ich konnte gestern Abend nichts in mein Tagebuch notieren. Schockstarre. Die chinesische Volksarmee hat den seit Wochen besetzten Tian’anmen-Platz in Peking »geräumt«. Dabei haben die Studenten und Arbeiter auf dem Platz des Himmlischen Friedens nur Reformen à la Gorbatschow in der Sowjetunion gefordert. Selbst »Manne«, unserem Parteisekretär und China-Experten, fehlen die Worte. Auf unser Drängen hin, sich zu äußern, murmelt er etwas von einem Riesenreich mit einer Milliarde Menschen, das schwerer zu regieren sei als unsere kleine Republik, vom Erbe Mao Tsetungs, der individuelles Schicksal dem Wohl des Kollektivs unterordnete, und von konfuzianischer Tradition, die über Jahrhunderte politische und soziale Hierarchisierung prägte. Auf Erwins Einspruch »Hat Konfuzius nicht auch Mitmenschlichkeit gepredigt?« antwortete »Manne«: »Ja, Konfuzius sagte aber auch: ›Wer einen Staat von 1000 Kriegswagen regiert, der muss bei allem, was er tut, korrekt und gewissenhaft sein. Er muss maßhalten können und die Menschen lieben. Seine Forderungen an das Volk dürfen nicht willkürlich sein.‹« Unsere irritierten Blicke irritierten ihn, er erhob sich vom Mittagstisch, ihm sei heiß, er brauche jetzt eine erfrischende »Götterspeise«. Während er zur Theke unserer Kantine trabte, rief ihm Erwin, unser Schildermaler, grimmig hinterher: »Es ist nur noch rote Grütze da.«
8. Juni: Es tut sich wieder mal was in der DDR. Ein »Verband der Freidenker«, bis dato bei uns nicht erwünscht, wurde gegründet und von Honecker mit einem Glückwunschschreiben bedacht, in dem dieser die neue Organisation als »eine weitere Möglichkeit« adelte, »interessierende politische, weltanschauliche, philosophische und ethische Fragen kameradschaftlich und freimütig zu diskutieren«. Ich überlege, ob ich beitrete. Wenn man da nicht nur frei denken, sondern auch frei reden kann? Ich muss an den großartigen DEFA-Film »Aus dem Leben eines Taugenichts« von 1973 denken, gedreht nach der gleichnamige Novelle von Joseph von Eichendorff. Wir frechen Pankower Oberschüler haben damals im Kinosaal lauthals mitgesungen: »Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliehen vorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen. Es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei.«
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