Rechts blind oder zu sehr mit Islamisten beschäftigt?

Auch Hessens Sicherheitsbehörden sind zu einseitig fleißig, doch gesellschaftliche Entwicklungen nach Rechts lassen sich nicht mit dem Verfassungsschutz stoppen

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn die Berichte zutreffen, »dann war es kaltblütiger rechtsextremer Mord. Das haben wir seit den NSU-Morden nicht mehr für möglich gehaltenen«, twitterte Peter Altmaier. Der CDU-Mann ist aktuell Wirtschaftsminister und war zuvor als Chef von Merkels Kanzleramt auch für die Aufsicht über die deutschen Geheimdienste zuständig. Altmaier benennt ein grundsätzliches Problem: Man hat so einen Mord - trotz zahlreicher Angriffe auf Flüchtlinge, deren Unterstützer, auf Linke, Gewerkschafter und auch auf Lokalpolitiker verschiedenster politischer Orientierung - »nicht mehr für möglich gehalten«.

Das macht mit erschreckender Deutlichkeit klar, dass die Regierung ebenso wie die Bundesanwaltschaft den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), deren Frontleute mindestens neun Migranten und eine Polizistin umgebracht haben, offenbar tatsächlich für ein einzigartiges Phänomen gehalten haben. Und warum Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche NSU-Unterstützer im Sande verlaufen sind.

Es ist gerade einmal drei Monate her, dass in Wiesbaden - nach Bundesvorbild - ein Hessisches Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrums (HETAZ) entstand. Führungspersonal von Landeskriminalamt (LKA), aus Staatsanwaltschaften und vom Landesverfassungsschutz treffen sich seitdem regelmäßig, um akuten Gefahren durch Extremisten schneller begegnen zu können. Während die Linksfraktion im Landtag beispielsweise witterte, mithilfe des HETAZ solle das Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten ausgehebelt werden, wollte LKA-Chefin Sabine Thurau - mit Hinweis auf das Berliner Weihnachtsmarkt-Attentat 2016 - den Bürgern klar machen, dass man deren Unsicherheitsgefühle ernst nimmt.

Zur Zeit sind allein in Hessen über 13 500 Extremisten aller Couleur registriert. Laut Kriminalstatistik sank im vergangenen Jahr die Anzahl politisch motivierter Straftaten um zehn Prozent, die der politisch motivierten Gewalttaten aber stieg deutlich von 59 Taten auf 85. Allein 31 Straftaten davon hatten einen islamistischen Hintergrund. Tendenz steigend.

Durch allerlei Verbote in Deutschland und die militärische Niederlage des »Islamischen Staates« hat sich insbesondere die Salafisten-Szene massiv verändert. Der Verfassungsschutz muss Heimkehrer ebenso wie im Untergrund agierende gewaltbereite Gruppen im Blick haben. Mehrere Razzien behinderten den Auf- und Ausbau neuer islamistischer Zellen. Dazu kommen Versuche, legal und langfristig an Kraft zu gewinnen. Die Gemeinschaft »Realität Islam« aus Mörfelden-Walldorf versucht mit zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen Anhänger zu rekrutieren, in Kassel hat man im letzten Moment die vom rot-grünen Magistrat geförderte Eröffnung eines Kindergartens verhindert, weil im Trägerverein »nachrichtendienstlich Bekannte« waren. Sie hatten an einer vom Salafisten-Prediger Pierre Vogel organisierten Mekka-Reise teilgenommen.

Das alles bindet Kräfte. Dennoch ist die Forderung berechtigt, dass die Sicherheitsbehörden mit der gleichen Effizienz und mit dem gleichen Aufwand an Ressourcen auch den rechtsextremistisch motivierten Terrorismus bekämpfen. Richtig, denn die Neonazi-Szene träumt nicht nur vom Tag X, sondern dokumentiert schon jetzt Macht und Skrupellosigkeit.

Angeblich gibt es die manifesten Szenen, auf die man zu NSU-Zeiten und danach vor allem in Nordhessen getroffen ist, nicht mehr. Rechtsextreme Gruppierungen wie »Sturm 18« oder der »Freie Widerstand« wurden verboten, klassische Kameradschaften sind »out«, lediglich die NPD und die Identitären seien noch sichtbar. Doch die alten Aktivisten gibt es noch. Ebenso »Nachrücker«. Leute aus der Kampfsport-, der Gelbwesten- oder der Hooliganszene verbünden sich, andere fühlen sich in der legalen und an Kraft gewinnenden AfD wohl. Es herrscht eine hohe Mobilität und wie schon zu NSU-Zeiten spare man sich Hierarchien. Nicht ohne Grund fürchten Experten, dass der ausbleibende Zulauf zu Organisationen wie Pegida - die Kagida in Kassel ist offenbar erledigt - Hardcore-Protestler zu Frust-Aktionen verleitet. Das radikale Neonazi-Motto »Taten statt Worte« wirke wie gehabt vor allem durch Beispiele. Siehe Stephan E.?

Aufmerksamkeit ziehen auch die sogenannten Reichsbürger auf sich. In Hessen gibt es um die eintausend solcher Rechtstaat-Hasser. Eine »niedrige dreistellige Zahl von denen«, ist rechtsextremistisch »in Erscheinung getreten«, sagen Experten aus dem CDU-geführten Innenministerium. Man findet sie überall in Hessen. Nachbarn eben, die Hälfte über 50 Jahre alt, ein Viertel davon sind Frauen. Darunter wurden auch Polizisten und Beamte aus dem Schulbereich identifiziert. Wenigstens versucht man, Reichsbürger zu entwaffnen. Im vergangenen Jahr sammelten die Behörden so 112 Schusswaffen ein. Um die 30 Waffenschein-Entzugsverfahren hatten aber noch nicht zum Erfolg geführt. Man bleibe »dran«, versichert das Innenministerium.

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