Kommt Zeit, kommt Filz

SYRIZA trat an mit dem Versprechen, die politische Kultur in Griechenland grundlegend zu verändern. Stattdessen näherte sich die Linkspartei dem »alten System« immer mehr an.

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 8 Min.

Ob der Staat heute besser oder schlechter funktioniere als vor fünf Jahren, lautete die Frage - und nur 19 Prozent der Griech*innen antworteten: besser. Über die Hälfte meinte sogar, die Verwaltung in dem krisengeplagten Land sei schlechter als 2013. Selbst die Anhängerschaft der Linkspartei SYRIZA, die seit 2015 die Regierung in Athen anführt, findet, dass der Staat heute schlechter funktioniert oder sich jedenfalls nichts zum Besseren verändert hat.

Die Umfrage ist schon einige Monate alt, aber worüber sie Auskunft gibt, geht über die täglichen Meldungen aus Griechenland und die bevorstehenden Neuwahlen hinaus: Als Alexis Tsipras kurz nach den Januar-Wahlen 2015 seine Regierungserklärung als neuer Ministerpräsident hielt, stand der »Kampf gegen die Missstände des griechischen politischen Systems« ganz oben auf der Liste seiner Vorhaben. »Ohne hier angeberisch klingen zu wollen«, so Tsipras damals, sei SYRIZA die einzige Kraft, die diesen Staat tatsächlich ändern könne. Es gehe um »den umfassendsten institutionellen Wiederaufbau in der zeitgenössischen Geschichte des Landes«.

Ziel: Ein ganz normaler Staat

Die Öffentlichkeit, nicht zuletzt die linke in der Bundesrepublik, hat diese Frage meist nur am Rande interessiert. Ob SYRIZA den »richtigen« Kurs eingeschlagen hat, ist vor allem daran gemessen worden, wie sich die Linkspartei gegen die Gläubiger und den Internationalen Währungsfonds schlug; daran, wie sie den geringen Spielraum nutzte, den die diktierten Memoranden ließen; daran, ob sie die Privatisierungen, Sozialkürzungen mittrug oder nicht. Es gab viele Hinweise von der Seitenlinie - man musste das Spiel der Krisenpolitik ja nicht selbst spielen.

Der Griechenlandkenner Niels Kadritzke hat unlängst an einen Rat von Slavoj Zizek erinnert: Die wichtigste Aufgabe für die griechische Linkspartei, so der slowenische Philosoph 2014, als ein Wahlerfolg von SYRIZA schon im Bereich des Möglichen lag, sei es, angesichts von Korruption und Klientelismus, einen stinknormalen bürgerlichen Staat aufzubauen.

Dass die europäische Linke diesen Punkt nicht übermäßig betonte, hat sicher auch damit zu tun, dass sich die überheblichen Vorwürfe anderer an die Adresse der »faulen Griechen« ähnlich anhörten: Ihr seid doch an der Krise selbst schuld! Diesen Tenor wollte man nicht noch bestärken. Allerdings kommt, wer nach den Ursachen für die Misere fragt, am griechischen Klientelismus nicht vorbei.

Geschichte des Klientelismus

Die Wurzeln des Klientelismus in Griechenland liegen weit zurück. Sie »erklären sich aus der griechischen Geschichte, die lange durch das Osmanische Reich bestimmt war«, so hat es einmal Arbeitsminister Giorgos Katrougalos formuliert. Die osmanische Herrschaft erstreckte sich nach deren Eroberung des Byzantinischen Reichs im 15. Jahrhundert auch auf Griechenland - und das bis ins 19. Jahrhundert. Die neuen Herrscher vernichteten die alte Oligarchie und verschafften den lokalen Dorfbürgermeistern, den sogenannten Muchtaren, eine neue Rolle. »Sie konnten als Führer und Beschützer der örtlichen Bevölkerung agieren«, so der Historiker Heinz A. Richter. »Aus ihrer Funktion als Beschützer gewannen sie in den Augen der Bevölkerung Prestige und Macht. Als Gegenleistung erwarteten sie Loyalität von ihren Hintersassen.« Da die Muchtare oft auch Geld zu teils horrenden Zinsen verliehen, wurde die Abhängigkeit der örtlichen Bevölkerung von ihrem jeweiligen Patron immer größer. Hinzu kam der Einfluss der orthodoxen Kirche. Diese besonderen Umstände, schreibt Richter, führten dazu, »dass die Griechen den Staat im wesentlichen als Ausbeuter erlebten«. Mit Folgen: »Steuervermeidung und Diebstahl von staatlichem Eigentum waren typische Abwehrreaktionen. Diese Einstellung zum Staat wurde zu einer Tradition, die bis heute fortwirkt.« Die Verfilzung der politischen und wirtschaftlichen Klientelnetze, so die »Frankfurter Allgemeine«, führte zudem »zu einer faktischen Steuerbefreiung der Reichen«.

Diesen alten Strukturen der Patronage, der Partikularinteressen, des Austrocknens öffentlicher Kassen, der Politik der Gefälligkeiten und Loyalitäten, in einer ganzen Kultur der Ablehnung staatlicher Zentralgewalt, von Steuerpflichten und so weiter geben bis heute viele Griech*innen auch die Schuld an der Wirtschaftskrise - und nicht nur den Gläubigern. »Was war ihrer Meinung nach die Hauptursache für die ökonomische Krise in Griechenland und die drei Memoranden?«, lautete im vergangenen Sommer eine Frage - die Antwort war eindeutig: Über 70 Prozent der Befragten nannten die Korruption.

Wer nach den Gründen für die heutige Schwäche von SYRIZA sucht, muss noch einmal auf die Neuwahlen im Herbst 2015 schauen. Die Linkspartei hatte damals über 35 Prozent geholt und kaum Verluste eingefahren - und das nur wenige Wochen nach der Zustimmung Tsipras’ zu einem dritten, wiederum mit schwerwiegenden Auflagen verbundenen Kreditprogramm, etwas, das die Griech*innen in einem Referendum im Juli 2015 eigentlich abgelehnt hatten. Warum konnte SYRIZA damals trotzdem fast ohne Einbußen erneut gewinnen?

Ein wichtiger Grund war abermals das Versprechen, die »ethischen Grundlagen« von Staat und Gesellschaft zu erneuern. Katrougalos sagte damals: »Der Erfolg von SYRIZA fußt eben darauf, dass wir Reformen durchsetzen und Korruption und Klientelismus bekämpfen« wollen. Die konservative Nea Dimokratia holte bei den Neuwahlen damals nur 28 Prozent. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt, die Rechtskonservativen stehen vor einem Sieg. Bei den Europawahlen 2019 bekam SYRIZA sogar nur noch 23 Prozent.

Kein Bruch mit dem alten System

Warum jetzt dieser Absturz? Ein Grund neben anderen dürfte im Versagen der Linkspartei liegen, den versprochenen Bruch mit dem alten System wirklich zu vollziehen. SYRIZA sei »noch in dieses System eingesponnen und stets in Versuchung, die klientelistischen Chancen wahrzunehmen, die sich einer Regierungspartei bieten«, so Kadritzke. Der sozialdemokratische Abgeordnete Panajotis Karkatsoulis, selbst ein Experte für Verwaltungsreformen, meint mit Blick auf die Staatsreformen von SYRIZA: »Viele Dinge haben sich nicht verändert, und was sich verändert hat, ist total fragil.« Sein Beispiel: Zwar ist die Zahl der fest angestellten Staatsbediensteten um 20 000 gesunken, die Zahl der mit befristeten Verträgen angestellten jedoch um 70 000 gestiegen - denn auch SYRIZA versuche, Wähler*innen an sich zu binden, »indem sie bestimmten Gruppen einen Gefallen tut«.

Der für die Verwaltungsreformen zuständige Minister, Dimitrios Liákos, verteidigt dagegen die Regierung, es gebe praktisch keinen Klientelismus mehr in Griechenland. Aber auch er weiß: »Der Prozess ist noch im Gange«, so Liákos. »Dieser Krieg gegen den Klientelismus ist eine Frage der Mentalität. Das ist eine langwierige Sache und lässt sich nicht von heute auf morgen stoppen.«

Was Folgen hat: Skandale wie jener um eine SYRIZA-Kandidatin für das Europäische Parlament, die jahrelang die Pension ihrer verstorbenen Mutter bezogen hatte, ohne die irrtümliche Auszahlung zu melden, schadeten der Linkspartei viel mehr als den anderen. Gerade weil SYRIZA sich ursprünglich als Alternative zu diesem »alten System« vorgestellt hatte. Kadritzke spricht von einer »Metamorphose« zu einer »Systempartei des klientelistischen Typs«. Auch andere Beobachter*innen sehen hier ein großes Problem. »Trotz der erreichten Fortschritte beim Bürokratieabbau und der Zurückdrängung der Korruption« sei die politische Kultur noch immer davon geprägt, schreiben Joachim Bischoff und Björn Radke in der Zeitschrift »Sozialismus«.

Steuereinnahmen fehlen

Natürlich muss auch erwähnt werden, dass der Kampf gegen den Klientelismus durch die Memoranden-Politik selbst torpediert wurde. Der Finanzexperte der Linkspartei, Axel Troost, hat gemeinsam mit Rainald Ötsch die Steuerreformen von SYRIZA untersucht. Die Einnahmeseite des Staates stellte »viel stärker noch als die Ausgabenseite die zentrale Schwachstelle der öffentlichen Finanzen dar«, heißt es in ihrer Studie. »Obwohl auch die Gläubiger das wussten, bestanden sie zunächst vor allem auf viel schneller wirksamen Kürzungen auf der Ausgabenseite.« Das führte über drastische Personalkürzungen unter anderem dazu, dass sich zum Beispiel die Vollzugsdefizite eines ohnehin schon defizitären Steuerwesens noch verschärften.

Um die Dimension zu verdeutlichen: 2012 nahm die griechische Regierung Schätzungen zufolge nur 57 Prozent der fälligen Steuern ein. Die Zahl der Beamt*innen ist seit 2010 auf Druck der Gläubiger um fast 300 000, also ein knappes Drittel gesunken. Erst »mit der Zeit bekamen Reformen des defizitären Steuerwesens größeren Raum«, so Troost und Ötsch - die Steuerbehörde AADE etwa ist seit 2016 nicht mehr dem Finanzministerium unterstellt. »Damit soll verhindert werden, dass die Steuerbehörde wie früher der jeweiligen Regierungspartei als Instrument zur Bedienung ihrer Klientel dient.«

Was an öffentlichen Einnahmen fehlt, fehlt am Ende einer linksgeführten Regierung für nachhaltige soziale und wirtschaftspolitische Reformen. Das sollte man im Hinterkopf haben, wenn man eine Bilanz von SYRIZA zieht. Kadritzke verweist auf die »begrenzten, in der Summe aber sehr beachtlichen Korrekturen an den Sparprogrammen«: Anhebung des Mindestlohns, Aufhebung der Einschränkung der Tarifverhandlungen, Durchsetzung einer elementaren Krankenversorgung für Hunderttausende von Nicht-Versicherten, Wohngeldzuschüsse für bedürftige Familien, Schutz der Erstwohnung für viele verschuldete Haushalte, Senkung der Mehrwertsteuer für viele Grundnahrungsmittel, die Gastronomie und den Stromverbrauch.

Dass die Linkspartei kurz vor den Europawahlen die Wiedereinführung einer 13. Rente durchsetzte, ist vom Vorsitzenden der Nea Dimokratia, Kyriakos Mitsotakis, als Wahlgeschenk in der Tradition des Klientelismus kritisiert worden. Die so ausgelösten Diskussionen, so Kadritzke, überdecken die Frage nach dem Inhalt von Reformen, nach ihrer sozialen Berechtigung. »Jede Maßnahme der Tsipras-Regierung, die den Konservativen klassenpolitisch zuwider ist, wurde von Mitsotakis als illegitime Bedienung der von der SYRIZA umworbenen Wähler denunziert.«

Und das ausgerechnet von einer Partei, »die das traditionelle Klientelsystem schlechthin verkörpert«. Eine, die nun wohl die nächste Regierung in Griechenland anführen wird. Bei aller Kritik an SYRIZA und dem, was in den vergangenen 53 Monaten alles nicht gelungen ist: Es steht eine »politische Rolle rückwärts« bevor, durch die das »alte System« zurückkehren wird.

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