• Berlin
  • Sozialpsychiatrischer Notdienst

Keine Hilfe in der Krise

Neukölln stellt wegen Personalmangels seinen sozialpsychiatrischen Notdienst ein

  • Marie Frank
  • Lesedauer: 4 Min.

Todesfälle, eine Trennung oder der Verlust des Arbeitsplatzes - solche plötzlichen Ereignisse treffen die meisten Menschen schwer. Bei psychisch Erkrankten können sie jedoch schwere Krisen oder gar Gewaltausbrüche gegen sich und andere auslösen. Umso wichtiger ist es, dass die Betroffenen eine niedrigschwellige sozialpsychiatrische Begleitung erhalten, die ihnen in solchen Krisenzeiten Hilfe bietet und sie im schlimmsten Fall in eine psychiatrische Klinik einweist.

In Neukölln gibt es diese Nothilfe nun nicht mehr. »Ich habe heute angeordnet, dass der sozialpsychiatrische Dienst Neukölln (SpD) keine Notdienste mehr anbietet«, teilte Gesundheitsstadtrat Falko Liecke am Freitag mit. »Das ist ein massiver Einschnitt in die psychiatrische Versorgung in Neukölln«, so der CDU-Politiker weiter. Er habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, sehe sich angesichts des Personalmangels jedoch zu diesem Schritt gezwungen: »Wir sind im permanenten Krisenmodus«, sagt Liecke und bezeichnet die Einstellung gegenüber »nd« als einen »Akt von Notwehr«.

Die Aufgaben des sozialpsychiatrischen Dienstes reichen von der Beratung und Vermittlung von Hilfen für psychisch erkrankte Personen bis zur Zwangseinweisung bei Eigen- oder Fremdgefährdung. Auch präventive Hilfe gehört zum Aufgabengebiet, kann aber laut Liecke nicht mehr gewährleistet werden. Durch die Schließung des Notdienstes seien Polizei und Feuerwehr bei akuten Krankheitsausbrüchen nun auf sich gestellt, da die psychiatrische Expertise zur Deeskalation und Einschätzung vor Ort fehle. Stattdessen müssen die Betroffenen nun ins Klinikum Neukölln gebracht werden, wo sie von dessen sozialpsychiatrischen Dienst begutachtet werden.

Wohin es führen kann, wenn in Krisensituationen keine geschulten Fachärzte vor Ort sind, hat sich erst vor wenigen Wochen gezeigt, als ein psychisch erkrankter Mann in Neukölln zwölf Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr angriff und mit einem Feuerlöscher verletzte. »Diese Eskalation wäre durch einen Einsatz des SpD vielleicht vermeidbar gewesen«, so Bezirksstadtrat Liecke. Dass die sozialpsychiatrische Versorgung nicht mehr gewährleistet ist, gefährde nicht nur die Erkrankten, sondern auch alle anderen Menschen in dieser Stadt.

Der SpD könne diese Aufgaben zurzeit jedoch nicht mehr leisten, da krankheits- und urlaubsbedingt nur zwei von sechs Fachärzten im Dienst seien, die durch ihre Arbeit in den Krankenhäusern voll ausgelastet seien. Zwei weitere Ärztinnen, die gerade eingestellt wurden, seien fachfremd und müssten erst einmal eingearbeitet werden, weshalb sie für den Notdienst nicht zur Verfügung stünden. Zwar seien aktuell weitere Stellen ausgeschrieben, bei der letzten Ausschreibung habe sich jedoch keine einzige Person beworben. Bei den Amtsärzten sieht es ähnlich aus: Der leitende Amtsarzt sei gerade in den Ruhestand gegangen, sein Stellvertreter gehe im August, Nachfolger*innen habe man bisher keine gefunden.

Die Ursache dafür sieht Liecke in der vergleichsweise schlechten Bezahlung von Ärzt*innen, die in Berlin im Gegensatz zu anderen Ländern und Kommunen nach dem niedriger entlohnten Tarifvertrag der Länder statt dem des öffentlichen Dienstes bezahlt werden. Das kann schon mal mehrere hundert Euro Unterschied ausmachen: Erst kürzlich habe ein Bewerber seine Zusage zurückgezogen, als er erfahren habe, dass er in Berlin 1000 Euro weniger verdient als in Schleswig-Holstein. »Ich brauche die Möglichkeit, eine bessere Vergütung anzubieten«, sagt Liecke. Die ist in seinen Augen theoretisch vorhanden: So sehe der Tarifvertrag der Länder vor, dass in bestimmten Fällen Sonderzahlungen von bis zu 20 Prozent möglich sind, um Fachkräfte zu gewinnen. Doch eine Anweisung von Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) deckelt diese Sonderzahlung aktuell bei sieben Prozent, kritisiert Liecke.

In der von Kollatz geführten Senatsverwaltung für Finanzen ist das Problem bekannt. Man habe daher eine Regelung initiiert, um höhere Gehälter an die Ärzte zahlen zu können, so eine Sprecherin. »Der Hauptpersonalrat hat dieser Regelung aber nicht zugestimmt«, heißt es auf nd-Anfrage. Man arbeite zurzeit an einer Einigung, wann die komme sei jedoch derzeit nicht absehbar. Die Senatsverwaltung sei aber weiter bemüht, die Bezahlung der Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst neu aufzustellen, heißt es.

Die Sonderzahlungen seien für die Fachkräftegewinnung aber keine Lösung, da sie längst nicht allen Ärzt*innen zur Verfügung stünden, sondern nach individueller Prüfung nur bei besonderen Qualifikationen vergeben würden. Dies seien »absolute Ausnahmefälle«, so die Sprecherin. Die Deckelung auf sieben Prozent solle vermeiden, dass neu eingestellte Ärzt*innen mehr verdienen als ihre Vorgesetzten, was zu erheblichen Verwerfungen führen könne.

Wie lange der sozialpsychiatrische Notdienst in Neukölln geschlossen bleibt, kann Gesundheitsstadtrat Liecke noch nicht sagen. Er befürchtet, dass noch weitere Schritte notwendig werden könnten, um die Dienste des Gesundheitsamtes einzuschränken.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.